Sonntag, 31. Oktober 2010

Kellerkind


Dann hol doch bitte ein Glas Kirschen aus dem Keller.“
In dem Moment überlegt sie bereits ob sie sich nicht anders entscheiden könnte. Mandarinen vielleicht, die stehen meistens im Schrank. Aber es müssen Kirschen sein. Sie will die saure Süße, den leichten Widerstand gegen den Biss, wenn einem danach der Saft in die Kehle läuft. Das rote auf den Lippen, wie gemalt, manchmal auch einen fingerbreit in den Ecken verschmiert, wie zu dick aufgetragener Lippenstift.
Sie nimmt den Schlüssel vom Haken, den mit dem roten Anhänger und der gleichmäßigen Kellerschrift. Blau ist für den Dachboden, als wenn Himmel und Hölle Farben hätten.
Im Treppenhaus, das automatische Licht. Wenn sie jetzt rennt, dann schafft sie es runter und rauf, bevor es wieder dunkel wird, aber nicht in den Keller, da müsste sie warten.
Ihr fehlt die Zeit, nachdem sie jetzt schon zu lange nachgedacht hat.
Zwischen Türen und Fenster wird sie schneller, lässt sich an einer Hand und einer Fußspitze um die Kurven schwingen. Dort wo der Schalter erreichbar ist wartet sie atemlos auf das bedrückende „klack“.
Sie schafft den ganzen Weg bis unten und wartet, mit der Hand auf dem Schalter, bis das Licht ausgeht.
Wenn jetzt jemand käme, auf dem gleichen Weg, ihr die Angst abnehmen würde. Sie wartet und lauscht, die Hand an der Klinke. Den kleinen Schlüssel fest in der Hand. Er hakt ein wenig, das hat er schon immer getan. Man hätte das Schloss auswechseln können, aber jeder kennt inzwischen den Trick. Leicht von unten, ein wenig nach links, dann geht es.

Was, wenn er jetzt direkt hinter der Tür auf sie lauert. Dahinter steht und atmet und durch das Holz sehen kann, die Angst in ihren Augen, zur Flucht bereit. Vielleicht wenn sie die Augen nur schließt, dann sieht er es nicht. Aber wenn sie die Augen geschlossen hat, dann kann sie nicht sehen wie er langsam auf der anderen Seite die Klinke drückt und mit seiner Krallenhand emporfährt und sie packt und hinter sich her schleift. Dahin, wo niemand sie hört.
War da nicht ein Geräusch? Die Augen weit aufgerissen, starrt sie die Klinke an Keine Bewegung, kein Atem außer ihrem, aber das Licht ist aus. Sie muss sich einfach schneller entscheiden.

Klack – sie wird jetzt diese Tür öffnen und da wird niemand sein. Sie ist sich fast sicher. Und wenn sie seine Fratze dort sieht, dann wird sie schreien und rennen.
Ihr Herz kann sie bis in die Klinke fühlen und als sie die Hand bewegt öffnet sie schon den Mund zum Schrei. Mit einem Ruck reißt sie die Tür auf und sieht in der Dunkelheit für einen Moment seine rot glühenden Augen. Er ist da und wartet, hält sie bewegungslos gebannt und legt seine ganze Macht auf sie. Sie starrt ihn an bis er sich auflöst, im Licht der Lampe über der Treppe. Die Sekunden, bis ihre suchende Hand den Schalter findet, sind jedes Mal endlos.

Zwölf Stufen nur, zwölf Stufen hinunter in sein Reich. Vielleicht wartet er ja am unteren Ende der Treppe nur darauf dass sie sich überwindet. Vielleicht will er sehen wie ihr die Angst aus dem Kragen kriecht. Eine Hand am Geländer tastet sie sich langsam Stufe für Stufe nach unten vor, das Ende fest im Blick..
Ein Geruch nach uralten Kohlen vermischt sich mit dem von feuchter Pappe.
Er ist mit einem samtgrünen Hauch von Schimmel überzogen, da ist sie sich sicher. So wie alles was zu lange hier unten verweilt.
Mit einem Sprung rettet sie sich von der letzten Stufe mit dem Rücken an die Wand.
Das schlimmste ist wenn er hinter einem ist, da weiß man nie was er vorhat.
Aber sie ist hier unten allein, bis auf seine unsichtbare Gegenwart die sie nur ahnt.

Vier Türen muss sie passieren, bis hin zur letzten. Acht Latten senkrecht, zwei quer und eine schräg. Pappe und alte Decken verbergen was dahinter lagert.
Er hat keine feste Masse, kann überall drunter und drüber und durch, wenn er will. In einem Moment ist sie noch allein und im nächsten schon haucht er sie an.
Sie bleibt mit dem Rücken an der Wand, schiebt sich seitwärts ans Ziel.
Zwei Schritte muss sie sich vorwärts bewegen, zur Tür mit der blauen Pappe dahinter.
Ein kleines Notfallgebet bevor sie sich aus der Deckung löst.
Herr Jesu gebt fein acht, ich hab Euch etwas mitgebracht.“ Das erste was ihr einfällt.

Wenn sie jetzt an der Wand bleiben würde, dann könnte sie weitergehen und an den Wänden im Fahrradkeller entlang. Ohne Hindernis würde sie dann auch zum Ziel kommen. Aber der Fahrradkeller ist ein großes dunkles Loch mit einem Extralicht.
Bestimmt ist er nicht da, irgendwo in einem anderen Keller beschäftigt, mit einem anderen Opfer. Bestimmt hat er gerade die doofe Sonja erwischt, die hat es nicht anders verdient.
Zwei Schritte vorwärts, den Schlüssel ins Schloss, von unten, nach links. Es will nicht gelingen. Bestimmt war er nachts heimlich oben in der Wohnung und hat die Schlüssel vertauscht. Sie spürt ihn direkt hinter sich, zieht den Kopf zwischen die Schultern und den Riegel des Schlosses aus der Öse nach oben. Die Tür schwingt auf, Holzregale, Farbeimer mit Resten und der alte Stuhl den niemand mehr braucht.
Apfel- und Fliederbeersaft, Erdbeermarmelade, Mirabellenkompott, Schattenmorellen. Das sind die Kirschen. Ohne Stein sehen sie aus wie abgetrennte zerdrückte Kinderzehen. Das Glas wiegt schwer in der Kinderhand, trotzdem wird sie gleich bis zur Treppe laufen und immer zwei Stufen auf einmal nehmen, ohne sich umzusehen. Sie will ihm und seinem Reich nur noch entkommen.
Das Schloss zugedrückt, jemand rührt sich im Treppenhaus.
Schon wieder mal das Licht angelassen“, den Rest der Tirade versteht sie nicht mehr. Das Licht geht in dem Moment aus als die Tür oben zuschlägt. Sie hat in der Dunkelheit noch ihren Fluchtweg im Blick und sieht an dessen Ende seine leuchtenden Augen warten. Jetzt sind sie hier unten allein.


Hände und Füße mit einer Kette verbunden, deren Ende nur wenig Raum lässt.
Wenn sie sich bewegt quietscht der metallenen Bettrahmen unter der muffigen Matratze. Aber das hört sie nicht, man hat ihr Sehen und Hören genommen.
Sie ahnt verschreckt eine diffuse Gegenwart und atmet schneller.
Beine und Arme hat sie dicht an den Körper gezogen, so bietet sie weniger Angriffsfläche, entgeht vielleicht der Entdeckung. Sie vermutet Dunkelheit im Raum, weil sie selbst nicht sieht.
Etwas ist in der Nähe, ihre Haut spürt den Lufthauch einer Bewegung. Die Zeit ist ihr längst verloren gegangen. Als sie das letzte Mal eingeschlafen war hat eine plötzliche Erschütterung des Bettes sie aus dem Schlaf gerissen und sie hastig atmend zurück gelassen. Sie hat geträumt, von endlos zähen Schritten, wie gegen eine Wand aus Zellophan, die einem den Atem nimmt.
Sie muss sich ihren Ängsten stellen, dem Kellermann aus Kindertagen begegnen.

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“
Niemand!“
Und wenn er kommt?“
Dann laufen wir.“
Aber wie kann man laufen wenn einer in der Dunkelheit auf dem einzigen Fluchtweg wartet oder eine Kette einen an der Flucht hindert. Sie kann nicht laufen, nur warten dass es vorbei geht. Er ist da, wie er immer da war, all die Jahre, in jeder Dunkelheit.
Eine Hand schiebt sich drängend zwischen Knie und Hals, umschließt ihre Kehle und drückt den Kopf gegen die Wand. Wenn sie jetzt aushält wird sie gleich seinen wartenden roten Augen in der Dunkelheit begegnen. Und dieses Mal wird sie nicht laufen, sie wird einfach durch ihn hindurch gehen.

(SZ 2010)

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