„Dann hol doch bitte ein
Glas Kirschen aus dem Keller.“
In dem Moment überlegt
sie bereits ob sie sich nicht anders entscheiden könnte. Mandarinen
vielleicht, die stehen meistens im Schrank. Aber es müssen Kirschen
sein. Sie will die saure Süße, den leichten Widerstand gegen den
Biss, wenn einem danach der Saft in die Kehle läuft. Das rote auf
den Lippen, wie gemalt, manchmal auch einen fingerbreit in den Ecken
verschmiert, wie zu dick aufgetragener Lippenstift.
Sie nimmt den Schlüssel
vom Haken, den mit dem roten Anhänger und der gleichmäßigen
Kellerschrift. Blau ist für den Dachboden, als wenn Himmel und Hölle
Farben hätten.
Im Treppenhaus, das
automatische Licht. Wenn sie jetzt rennt, dann schafft sie es runter
und rauf, bevor es wieder dunkel wird, aber nicht in den Keller, da
müsste sie warten.
Ihr fehlt die Zeit,
nachdem sie jetzt schon zu lange nachgedacht hat.
Zwischen Türen und
Fenster wird sie schneller, lässt sich an einer Hand und einer
Fußspitze um die Kurven schwingen. Dort wo der Schalter erreichbar
ist wartet sie atemlos auf das bedrückende „klack“.
Sie schafft den ganzen Weg
bis unten und wartet, mit der Hand auf dem Schalter, bis das Licht
ausgeht.
Wenn jetzt jemand käme,
auf dem gleichen Weg, ihr die Angst abnehmen würde. Sie wartet und
lauscht, die Hand an der Klinke. Den kleinen Schlüssel fest in der
Hand. Er hakt ein wenig, das hat er schon immer getan. Man hätte das
Schloss auswechseln können, aber jeder kennt inzwischen den Trick.
Leicht von unten, ein wenig nach links, dann geht es.
Was, wenn er jetzt direkt
hinter der Tür auf sie lauert. Dahinter steht und atmet und durch
das Holz sehen kann, die Angst in ihren Augen, zur Flucht bereit.
Vielleicht wenn sie die Augen nur schließt, dann sieht er es nicht.
Aber wenn sie die Augen geschlossen hat, dann kann sie nicht sehen
wie er langsam auf der anderen Seite die Klinke drückt und mit
seiner Krallenhand emporfährt und sie packt und hinter sich her
schleift. Dahin, wo niemand sie hört.
War da nicht ein Geräusch?
Die Augen weit aufgerissen, starrt sie die Klinke an Keine Bewegung,
kein Atem außer ihrem, aber das Licht ist aus. Sie muss sich einfach
schneller entscheiden.
Klack – sie wird jetzt
diese Tür öffnen und da wird niemand sein. Sie ist sich fast
sicher. Und wenn sie seine Fratze dort sieht, dann wird sie schreien
und rennen.
Ihr Herz kann sie bis in
die Klinke fühlen und als sie die Hand bewegt öffnet sie schon den
Mund zum Schrei. Mit einem Ruck reißt sie die Tür auf und sieht in
der Dunkelheit für einen Moment seine rot glühenden Augen. Er ist
da und wartet, hält sie bewegungslos gebannt und legt seine ganze
Macht auf sie. Sie starrt ihn an bis er sich auflöst, im Licht der
Lampe über der Treppe. Die Sekunden, bis ihre suchende Hand den
Schalter findet, sind jedes Mal endlos.
Zwölf Stufen nur, zwölf
Stufen hinunter in sein Reich. Vielleicht wartet er ja am unteren
Ende der Treppe nur darauf dass sie sich überwindet. Vielleicht will
er sehen wie ihr die Angst aus dem Kragen kriecht. Eine Hand am
Geländer tastet sie sich langsam Stufe für Stufe nach unten vor,
das Ende fest im Blick..
Ein Geruch nach uralten
Kohlen vermischt sich mit dem von feuchter Pappe.
Er ist mit einem
samtgrünen Hauch von Schimmel überzogen, da ist sie sich sicher. So
wie alles was zu lange hier unten verweilt.
Mit einem Sprung rettet
sie sich von der letzten Stufe mit dem Rücken an die Wand.
Das schlimmste ist wenn er
hinter einem ist, da weiß man nie was er vorhat.
Aber sie ist hier unten
allein, bis auf seine unsichtbare Gegenwart die sie nur ahnt.
Vier Türen muss sie
passieren, bis hin zur letzten. Acht Latten senkrecht, zwei quer und
eine schräg. Pappe und alte Decken verbergen was dahinter lagert.
Er hat keine feste Masse,
kann überall drunter und drüber und durch, wenn er will. In einem
Moment ist sie noch allein und im nächsten schon haucht er sie an.
Sie bleibt mit dem Rücken
an der Wand, schiebt sich seitwärts ans Ziel.
Zwei Schritte muss sie
sich vorwärts bewegen, zur Tür mit der blauen Pappe dahinter.
Ein kleines Notfallgebet
bevor sie sich aus der Deckung löst.
„Herr Jesu gebt fein
acht, ich hab Euch etwas mitgebracht.“ Das erste was ihr einfällt.
Wenn sie jetzt an der Wand
bleiben würde, dann könnte sie weitergehen und an den Wänden im
Fahrradkeller entlang. Ohne Hindernis würde sie dann auch zum Ziel
kommen. Aber der Fahrradkeller ist ein großes dunkles Loch mit einem
Extralicht.
Bestimmt ist er nicht da,
irgendwo in einem anderen Keller beschäftigt, mit einem anderen
Opfer. Bestimmt hat er gerade die doofe Sonja erwischt, die hat es
nicht anders verdient.
Zwei Schritte vorwärts,
den Schlüssel ins Schloss, von unten, nach links. Es will nicht
gelingen. Bestimmt war er nachts heimlich oben in der Wohnung und hat
die Schlüssel vertauscht. Sie spürt ihn direkt hinter sich, zieht
den Kopf zwischen die Schultern und den Riegel des Schlosses aus der
Öse nach oben. Die Tür schwingt auf, Holzregale, Farbeimer mit
Resten und der alte Stuhl den niemand mehr braucht.
Apfel- und
Fliederbeersaft, Erdbeermarmelade, Mirabellenkompott,
Schattenmorellen. Das sind die Kirschen. Ohne Stein sehen sie aus wie
abgetrennte zerdrückte Kinderzehen. Das Glas wiegt schwer in der
Kinderhand, trotzdem wird sie gleich bis zur Treppe laufen und immer
zwei Stufen auf einmal nehmen, ohne sich umzusehen. Sie will ihm und
seinem Reich nur noch entkommen.
Das Schloss zugedrückt,
jemand rührt sich im Treppenhaus.
„Schon wieder mal das
Licht angelassen“, den Rest der Tirade versteht sie nicht mehr. Das
Licht geht in dem Moment aus als die Tür oben zuschlägt. Sie hat in
der Dunkelheit noch ihren Fluchtweg im Blick und sieht an dessen Ende
seine leuchtenden Augen warten. Jetzt sind sie hier unten allein.
Hände und Füße mit
einer Kette verbunden, deren Ende nur wenig Raum lässt.
Wenn sie sich bewegt
quietscht der metallenen Bettrahmen unter der muffigen Matratze. Aber
das hört sie nicht, man hat ihr Sehen und Hören genommen.
Sie ahnt verschreckt eine
diffuse Gegenwart und atmet schneller.
Beine und Arme hat sie
dicht an den Körper gezogen, so bietet sie weniger Angriffsfläche,
entgeht vielleicht der Entdeckung. Sie vermutet Dunkelheit im Raum,
weil sie selbst nicht sieht.
Etwas ist in der Nähe,
ihre Haut spürt den Lufthauch einer Bewegung. Die Zeit ist ihr
längst verloren gegangen. Als sie das letzte Mal eingeschlafen war
hat eine plötzliche Erschütterung des Bettes sie aus dem Schlaf
gerissen und sie hastig atmend zurück gelassen. Sie hat geträumt,
von endlos zähen Schritten, wie gegen eine Wand aus Zellophan, die
einem den Atem nimmt.
Sie muss sich ihren
Ängsten stellen, dem Kellermann aus Kindertagen begegnen.
„Wer hat Angst vorm
schwarzen Mann?“
„Niemand!“
„Und wenn er kommt?“
„Dann laufen wir.“
Aber wie kann man laufen
wenn einer in der Dunkelheit auf dem einzigen Fluchtweg wartet oder
eine Kette einen an der Flucht hindert. Sie kann nicht laufen, nur
warten dass es vorbei geht. Er ist da, wie er immer da war, all die
Jahre, in jeder Dunkelheit.
Eine Hand schiebt sich
drängend zwischen Knie und Hals, umschließt ihre Kehle und drückt
den Kopf gegen die Wand. Wenn sie jetzt aushält wird sie gleich
seinen wartenden roten Augen in der Dunkelheit begegnen. Und dieses
Mal wird sie nicht laufen, sie wird einfach durch ihn hindurch gehen.
(SZ 2010)
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