Dienstag, 22. Juni
2010 - 16:26 Uhr
Wartezeit
Wartezeit
Ich stehe unter dem blauen Schild mit einer weißen 5 darauf, so kann ich wenigstens sicher sein das ich hier richtig bin. Ich habe die verschiedenen Aushänge der Fahrpläne mehrmals miteinander abgeglichen um auch ganz sicher zu sein. Da ich öffentliche Verkehrsmittel nur selten nutze verunsichert mich der Umgang damit. Und ich würde nicht zum ersten Mal falsch einsteigen.
Aber Steig 5 ist richtig.
Im Grunde bewundere ich die lärmende Schar von Kindern und fast Erwachsenen, die sich hier mit einer Selbstverständlichkeit bewegen, ohne sich konzentrieren zu müssen. Ihre Alltäglichkeit kommt ihnen hier zu gute. Sie wissen genau wann und wo sie sich einzufinden haben.
Mir fällt es schwer, mich dabei auf mein Urteilsvermögen zu verlassen. Ich traue Zahlen und Ziffern nicht.
Es ist heiß hier in der prallen Sonne, ich fühle mich unwohl, bin versucht ein paar tobenden Kindern etwas entgegen zu knurren, damit sie mir nicht zu nah kommen. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss warten, auf den richtigen Moment, den richtigen Einstieg in die richtige Richtung.
In meinem Rucksack liegt ein Buch. Wenn ich gelassener wäre, dann könnte ich jetzt neben der jungen Mutter und ihrem Kleinkind einen Platz finden, mein Buch aufschlagen und dem hier entrücken. Aber dann wäre ich unkonzentriert, also traue ich dem nicht und lasse das Buch wo es ist.
Auf dem Hauptsteig ist Schatten, aber ich werde nicht dort hinüber gehen. Ich werde hier unter der weißen 5 auf blauem Grund stehen bleiben und noch 20 Minuten in der Hitze warten müssen.
Vereinzelt stehen Erwachsene wie Säulen zwischen den beweglichen Kindern.
Ältere Frauen mit großen Kunstledertaschen, deren Griffe sie mit festem Griff umschließen. Zwei junge Frauen stehen in der Nähe des Papierkorbs und rauchen in der Nichtraucherzone. Das ganze Gebiet hier ist eine öffentliche Nichtraucherzone.
Ich frage mich nach dem Sinn von Nichtraucherzonen unter freiem Himmel.
Aber manchmal wünsche ich mir auch so eine Zone. Eine Zone in der mich niemand stören darf und kann. So etwas wie eine ganz persönliche Bannmeile, in die niemand eindringen darf, der mir nicht wohl gesonnen ist, oder der mich im negativen Sinne stört.
Manchmal schaffe ich mir so eine Bannmeile mit meinen Blicken, mit meiner Haltung. Von außen betrachtet wirkt es wie eine harte Schale, aber ich lasse ungern Fremde in meinen ganz persönlichen inneren Kreis und gewähre nur wenigen einen Einblick in die mich bewegenden Realitäten. Auch wenn ich nicht weiß, wie dieser Funke manchmal überspringt, und es doch gelegentlich mal jemand schafft sich dazu eingeladen zu fühlen. Die allermeisten müssen hinter der Absperrung bleiben.
Mit meinen Gedanken schweifen auch meine Blicke umher, treffen dabei unvermittelt auf ein Augenpaar. Ein Blick, dem ich für gewöhnlich in so einer Umgebung ausweichen würde, aber ich halte Stand, bleibe haften.
Ich könnte nicht sagen was es ist, was meinen Atem jetzt tiefer und ruhiger werden lässt. Ich atme, sehe weiter hin und bemerke, dass wir im gleichen Takt atmen.
Das geschieht nicht abrupt, aber mit jedem Atemzug nähern wir uns an.
Ich kann mich nicht lösen, von diesem Atem, diesem Blick.
Und ich will jetzt nichts weiter denken, lasse alle Konzentration auf das Hier los.
Ein unsichtbarer, elektrisch geladener Faden spannt sich vibrierend zwischen uns.
Ich blende alles aus, die Hitze, den Lärm, das Licht, die Zeit, alles was jetzt unwichtig ist. Ich will nur diesen Moment halten, in mir in die Erinnerungen heften.
Wir könnten uns aufeinander zu bewegen, aber wenn wir dann feststellen würden, dass wir nicht das gleiche Ziel haben, dann würden wir diesen Moment der Eile opfern müssen und es würde vielleicht nichts bleiben, als ein paar flüchtig ausgetauschte Zahlen, denen ich nicht traue, weil sie mehr und mehr an Bedeutung verlieren.
Ich überlasse der Zeit die Entscheidung über den weiteren Verlauf, wie früher beim Gänseblümchen-Schicksal-Abzählen. Jeder hat sein eigenes Ziel im Kopf und wenn wir nicht die gleiche Richtung hätten, dann würden wir hier nicht aufeinander getroffen sein.
In mir ist eine abwartende Ruhe angekommen, die darüber entscheidet dass es richtig sein wird, so wie es geschehen wird.
Ein ankommendes Geräusch lässt allgemeine Hektik aufkommen, in der wir unsere Blicke voneinander lösen.
Die Frage nach der Richtung bleibt und wird sich früher oder später klären, wenn die Zeit für eine Antwort gekommen ist.
Samstag, 19. Juni 2010 - 14:43 Uhr
Handlesen
Ich sehe gerne auf deine Hände, die kantigen Finger mit den schmalen Nägeln, wie sie manchmal ungeduldig mit einem Fussel kämpfen, als würden sie Krieg mit ihm führen.Und wie sie manchmal nur einfach ruhen, wenn eine Hand selbstvergessen den Becher mit einem leise, schabenden Geräusch auf dem Tisch dreht und die andere Hand ein Buch von oben hält, den Zeigefinger zwischen den Seiten.
In solchen Momenten mag ich mich kaum rühren um das Bild nicht zu stören. Ich will nicht dass du innehälst und aufsiehst, dein Blick ruhelos und ungeduldig wird.
Ich mag es, wenn ich dich in solchen Momenten einfach nur betrachten kann.
Ich sehe an deiner Stirn wie dich bewegt was du liest, an dem Spiel der Augenbrauen.
Wie die Augen noch einmal zurück wandern, ein paar Zeilen nach oben, weil irgend etwas den Fluss unterbrochen hat. Wie du manchmal mittendrin das Buch zuklappst, den Finger zwischen den Seiten und mit einem Finger der anderen Hand über eine Augenbraue streichst, dein Blick ins Leere geht, dorthin wo man sich zum Denken zurückzieht, bis du die Seiten wieder aufschlägst und weiter in der papiernen Welt versinkst.
Wenn du so bist, dann weiß ich, dass du nichts beweisen musst, nicht mir, nicht uns.
Dann sehe ich dich wie du bist.
Als würde ich etwas kostbares in Händen halten, drehe und wende ich dich in meinen Gedanken. Ich bin nicht auf der Suche nach etwas kantigem an dem ich hängen bleibe, weil du dich für mich glatt und rund anfühlst.
Ich lausche dem Geräusch mit dem du die Seiten umschlägst ohne Ungeduld und wünschte mir, du würdest gerade heute immer weiter lesen.
Aber ich bedaure uns auch um die Zukunft, in der es keine Bücher mehr geben wird, in der man ohne die altbekannten Geräusche und den Geruch von frischem oder gelesenem Papier auskommen muss.
Wenn sich nicht mehr Rücken an Rücken in den Regalen zeigt, auf welchen Pfaden man im Leben gewandelt ist.
Wenn man anstatt in hölzernen Regalen nur noch in Dateien und Ordnern sortiert, welche Papierreise spannend war, mit welchen Helden man im Kampf gestanden hat und mit wem man bis zur letzten Seite gebangt hat.
Jetzt legst du das Buch ohne Hast beiseite, nicht ohne an Stelle deines Fingers ein Stück Papier hinein zu legen.
Dein Blick zeigt mir, dass sich etwas in dir angespannt hat, etwas das heraus muss, jetzt gleich. Es springt mir entgegen, lässt mich die Handfläche zwischen den Knien aneinander reiben. Mit zwei Schritten bist du bei mir und gleich wird meine Ahnung zur Gewissheit werden. Ich mag deine Hände, auch wenn sie andere Dinge tun.
Dienstag, 8. Juni 2010 - 11:25 Uhr
nachts
Nachts kriecht es in die Seelenlöcher
was man am Tage so bekämpft
es brennt wie junge Nesselblätter
es reibt sich in und unter die Haut
wie ein giftiger Stachel
ein Fluss aus gelbem Eiter
aus dem juckenden Ekzem
das einen nicht zur Ruhe kommen lässt
der alles vergiftet
was war und was ist
und immer wieder Sand
in diese offene Wunde
und im Getriebe
lethargische Schritte ins Vorwärts
mir schmerzt der Nacken
von den Schlägen
erinnerungswund
pflücke ich mir die Reste
bevor sie ganz davon verdorben sind
dies Schlachtfeld lass ich dir
dass du dich in den Fetzen suhlen kannst
das laute Leid ist deines
kampflos geschlagen
trete ich leise zurück
aus den blutigen Scherben
aus einem Albtraum erwacht
mit einem blinden Schrei
aber ich war nicht tot,
wer starb, dass warst du
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