Seit
dem Morgen saß sie hier am Tisch, dessen Hässlichkeit das zu kleine
Stück Stoff nur notdürftig bedeckte.
Auf
dem Kunststoffbrett mit den unzähligen Schnitten fremder Messer lag
die Graubrotscheibe und rollte sich langsam trocknend an den Rändern
auf.
Der
Kaffee stand seit Stunden in der Glaskanne auf der Warmhalteplatte
und hatte einen herb-bitteren Geschmack, den sie mit reichlich Milch
verdünnte.
Sie
hatte in der Firma angerufen, irgendetwas von Hexenschuss erzählt.
Ja,
morgen wäre sie wieder da, bestimmt. Und nein, das hätte sie nicht
öfter, zum ersten Mal.
Als
wenn ihr nicht bewusst wäre, wie blöd es war in den ersten Wochen
gleich krank zu werden. Aber sie wollte nur diesen einen Tag, einmal
durchatmen, niemanden sehen, nicht funktionieren müssen.
Ein
paar Mal war sie mit dem Kaffee in der Hand durch die Wohnung
gewandert, die sie gern ihr zuhause genannt hätte.
So
weit war sie noch nicht, dafür war die Mischung aus ihr völlig
fremden Gerüchen noch zu aufdringlich.
Außer
der weißen Farbe war nichts neu hier, nichts ihr eigen.
Lieber
hätte sie sich ihr neues Leben neu eingerichtet, nur blieb ihr dafür
nicht genug Zeit.
Hätte
sie ihre Ansprüche bei der Behörde geltend gemacht wäre es sicher
um einiges leichter gewesen, aber sie wollte nichts erklären, sich
nicht schon wieder klein gemacht fühlen.
Dafür
steckte ihr das Mantra der Wertlosigkeit - kannst nichts, hast
nichts, bist nichts - noch zu sehr in den Knochen.
Jetzt
ging es ihr darum zu beweisen dass dem nicht so war.
Das
sie nichts hatte war noch ziemlich offensichtlich, nur das nötigste
aus dem Gebrauchtmöbelladen.
Bett,
Schrank, Tisch, Stuhl, zwei Sessel und ein Regal.
Die
Sessel waren ein Paar gewesen und sie hatte es nicht fertig gebracht
sie auseinander zu reißen, wie sie in ihrem leicht abgeschabten
Charme dort nebeneinander gestanden hatten.
Ein
paar Dinge für den alltäglichen Gebrauch, unpaariges Geschirr, mit
abgestoßenen Kanten, an denen sie nicht Schuld war.
Hinüber
gerettet hatte sie nicht viel, außer Kleidung, ein paar alte Bücher
und den Garderobenständer an dem sie seit ihrer Jugend hing, über
den er immer nur geflucht hatte, weil er so kibbelig stand.
Bei
den Fotos hatte sie noch überlegt, aber dann entschieden, dass sie
die Erinnerung nicht wert waren, sie die wohl sogar eher meiden
wollte für die Zukunft.
Beim
durchblättern der Alben erst war ihr aufgefallen, das sie kaum
einmal gelächelt hatte in all den Jahren und damit ihren Entschluss
noch bekräftigt.
Sie
hatte sich gewundert woher sie den Mut zusammengeklaubt hatte.
Überhaupt
in den Stellenanzeigen zu stöbern, als würde sie tatsächlich etwas
suchen, wo sie doch nichts konnte.
Aber
Küchenhilfe, das ging wohl, kochen konnte sie ja.
Die
heimliche Freude über das Vorstellungsgespräch und das Bangen um
die Zusage.
Einen
Monat halbtags, zur Einarbeitung, kam ihr sehr gelegen.
Sie
verließ das Haus kurz nach ihm und wenn sie mittags wieder daheim
war ließ sie die Kleidung mit dem Küchenduft im Keller.
Er
kam ihr nicht drauf und sie hatte Geld genug für die erste Miete.
Vier
Nächte auf der Luftmatratze aus dem Billigladen, dann hatte sie Zeit
zum Möbelkauf.
Sie
hatte ihm am letzten Abend gesagt dass sie gehen würde, er hatte ihr
ins Gesicht gelacht.
"Du
doch nicht, du bist doch nichts ohne mich."
Trotzdem
hatte sie am nächsten Morgen ihre Sachen in zwei Koffern verstaut
und war mit der S-Bahn umgezogen, froh einen eigenen Schlüssel zu
haben.
Ja,
sie hatte wirklich nicht viel.
Die
Bücher hatte sie in das Regal sortiert und nach und nach wieder
angefangen sie noch einmal zu lesen.
Er
hielt nichts von Büchern und schon gar nicht, wenn Frauen sie lasen,
die kämen dadurch nur auf dumme Gedanken.
Und
jetzt beim Lesen kamen all die Träume wieder, die sie damals hatte.
Die
Länder, die sie all die Jahre vermisst hatte.
Und
die Menschen in den Geschichten, die ihr damals beim Lesen alle so
nah gewesen waren.
Ihre
Gedanken spielten mit den verschnörkelten Sätzen, die sich
umeinander schraubten. Sogar die Sprache hatte er ihr genommen.
Einmal
hatte sie angefangen heimlich ein Tagebuch zu schreiben, warf es aber
nach den ersten Seiten in einen namenlosen Müllcontainer in der
Stadt, aus Angst er würde es entdecken und ihre Gedanken lesen.
Ein
alter, an den Rändern abgeschabter Gedichtband hatte ein Eselsohr an
einer Stelle mit einem Gedicht von Kästner.
Wann
sie dieses Eselsohr da hineingeknickt hatte war ihr nicht bewusst.
Da
kam ihnen ihre Liebe abhanden,
wie
anderen Leuten ein Stock oder Hut
Die
beiden Zeilen hatte sie dünn mit Bleistift unterstrichen. Die
Striche waren inzwischen fast gänzlich verblasst, wie ihre Hoffnung
irgendwann verblasst war.
Sie
konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie das damals war mit
der Liebe zwischen ihnen und ob oder wann sie überhaupt abhanden
gekommen war.
Sie
hatte sich nicht davon geschlichen, irgendwie hatte sie sich in ihre
Atome gespalten und sich leise verflüchtigt, das bisschen was da
jemals gewesen war.
Nicht
einmal für ihr "Ja" fand sie mehr einen Grund.
Auch
für ihr aushalten all die Jahre nicht. Sie hatte sich nichts mehr
zugetraut irgendwann, glaubte ihm seine vernichtenden Sätze.
Ein
Traum hatte an ihr gerüttelt. Ein Traum in dem sie wuchs und wuchs
und am Ende viel größer war als er. Einen einzigen Satz sagte sie
zu ihm:
"Und
was bist du ohne mich?" Dann wachte sie auf.
Tagelang
war ihr dieses Bild nicht aus dem Kopf gegangen und als sie die
ersten Nächte allein in ihrer Wohnung verbrachte dachte sie wieder
daran.
Sie
vermisste ihn nicht und wunderte sich nicht einmal darüber.
Aber
es war auch nicht so dass sie ihre Freiheit genoss, eher die Ruhe.
Allein
war sie schon viele Jahre gewesen.
Nur
befreit war sie deshalb nicht.
Wirklich
wichtig war sie ihm nicht, aber trotzdem wachte er mit Argusaugen
über sie. Er fürchtete nicht das sie ging, sondern lediglich das
sie sich seiner Macht entzog, er nichts mehr hätte zum kleinhalten.
Sie
kramte in ihrer Erinnerung nach den "guten Zeiten" und fand
nur wenige Momente die diese Bezeichnung verdienten. Die lagen ganz
am Anfang, als Freunde und Bekannte noch eine Chance hatten in ihrem
Leben, bis sie sich dann schlussendlich doch alle in seinen Augen als
untauglich erwiesen.
Die
taugten alle nichts, waren nichts, hatten nichts, konnten nichts.
Mehr
als einmal hatte er sie wutentbrannt nach einer Feier in den alten
Ford befohlen, weil wieder einmal einer von denen einen Streit
angefangen hatte, nur weil der Recht haben wollte. Die wussten ja
immer alles besser als er.
Aber
was wussten die schon, nichts wussten die.
Sie
hatte immer nur still daneben gesessen. Und wenn er sie aufgefordert
hatte "Nun sag doch auch mal was," dann hatte sie mit den
Schultern gezuckt und wenn sie eine Weile später Luft holte um etwas
zu sagen fiel er ihr ins Wort. "Ach, was weißt du denn schon."
Im
Grunde war sie froh, als ihr das endlich erspart blieb.
Wenn
er abends nach hause kam, sich an den gedeckten Tisch setzte, dann
erklärte er ihr die Welt, so wie sie sie zu sehen hätte, alles
andere wäre sowieso Unsinn, nicht der Rede wert.
Versuchte
sie anderer Meinung zu sein, blockte er sie mit einem "Ach..."
ab, bis sie schweigend aufgab.
Ihr
Nicken deutete er später ganz selbstverständlich als Zustimmung,
ohne zu bemerken das sie das Zuhören schon längst aufgegeben hatte.
Mit
einer Hand knibbelte sie die trockenen Kanten der Käsescheiben ab
und steckte sie sich in den Mund. Wenn sie an ihn dachte verging ihr
der Appetit.
Sie
suchte nach Gefühlen für ihn, brachte aber nicht einmal eine
handvoll Mitleid zusammen.
Die
Erinnerungen würden verblassen und mit ihnen das Bild von ihm.
Wahrscheinlich
würde er ihre Geschichte und auch das Ende ganz anders erzählen,
aber das war nicht mehr wichtig.
Irgendwann
würde sie die Dämonen entsorgen, wie jetzt die vertrocknete Scheibe
Brot und den letzten Schluck von dem bitteren Kaffee.
Juli 2009 (mullewapp)
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