Mittwoch, 7. Dezember 2011

Eigentlich

Eigentlich“ hast du gesagt, liebst du mich noch. Was für eine Schwäche durch deine Antwort wabert, als wärst du dir gar nicht sicher, wüsstest nicht was es bedeutet, dieses -eigentlich- darin.

Erinnerst du dich eigentlich noch, als ich dir diese Frage das erste Mal stellte, voller leiser Unsicherheit, die Worte verdreht, wie unsere Finger ineinander.
Das aufdringliche Geschnatter zu unseren Füßen, auf der Bank im Park.
Hungrige Enten die nach unseren Füßen hackten als würden sie uns aufscheuchen wollen und lieber unsere Aufmerksamkeit auf das Geschnatter und Gefieder lenken.

Die Worte an deinen Hals geflüstert, in den dicken Kragen der uns trennte, Schenkel an Schenkel. Du hast mich angesehen als würdest du mir ein knappes „Selbstverständlich“ entgegnen wollen. Dann sagtest du es, ganz wie selbstverständlich, dass es so wäre. Du fragtest nicht nach meinen Zweifeln, ob und wieso.
Eigentlich war es auch gar nicht wichtig die Worte zu hören, ich wusste, wollte nur sicher gehen. Nein, ich wollte sicher bleiben.

Unzählige Anlässe und Wiederholungen haben die Worte lange Zeit nie abgenutzt erscheinen lassen.
Eigentlich weiß ich gar nicht so recht wann sie uns abhanden kamen und wieso gerade jetzt es wieder so wichtig ist.

Ich kann meine Frage nicht mehr flüstern, zuviel Angst schwingt darin mit.
Mit der Entfernung der Körper geht die Erhöhung der Lautstärke einher.
Eine Frage wie eine Waffe die ich gegen dich richte.
Ich sehe, du suchst nach einer Antwort, einer die richtig zu sein scheint.
Nicht zu lapidar, nicht zu aufgetragen.
Heute wie damals wäre ein „Selbstverständlich“ nicht richtig.
Damals rückten wir noch einen Millimeter näher beisammen.
Heute hängt von deiner Antwort ab, wie weit wir uns noch voneinander entfernen.
In der selben Sekunde frage ich mich, ob es auf meine Frage überhaupt noch eine richtige Antwort geben kann, oder ob die Notwendigkeit der Fragestellung nicht schon die Konsequenz aus der Antwort impliziert.

Können wir uns noch lieben wie wir sind, auch wenn wir nicht mehr die sind, die wir einmal waren.
Die Zeiten haben sich und uns geändert und Keile getrieben, die wir nur entfernen können wenn wir unsere Herzen bluten lassen. Kein Kelch der einfach so an uns vorüber gehen könnte, nicht wenn wir die alte Antwort wieder geben wollen.

Und doch, dieses leise „eigentlich“ in deiner Antwort lässt mich in vergangenes horchen. So unsicher meine Frage, so verängstigt deine Antwort.
Was wäre, wenn es nicht einmal mehr dieses „eigentlich“ gäbe?
Dann hätten wir uns gerade eben die Basis entzogen.

Lass uns dieses „eigentlich“ aufheben und damit weitermachen.
Lass uns in den Park gehen, Enten füttern und vielleicht wieder zusammenrücken.

rot

Auf allen Vieren bin ich vor dir her gekrochen.
Es hat dich nicht interessiert das ich gewimmert habe, bei jedem Schlag.
Bis du mich in der Ecke hattest. Ich wollte aufstehen, die Arme zur Abwehr vor mich legen. Deine Schläge trafen meine Beine bis ich den Versuch mit dem Gesicht zur Wand wieder aufgegeben habe.
Ich wollte dich ansehen, dass du mich siehst, mich ergeben, dir Recht geben.
Deine Schläge auf dem Rücken, den Rippen, den Hüften, die Beine hinunter.
Meine Hände und Arme am Körper, vor dem Körper, um die Beine geschlungen, vor dem Kopf. Fliegende Abwehr.
Du hast mich doch da wo du mich haben wolltest.

Ich habe die Äpfel nicht geklaut, Sie waren ein Geschenk über den Gartenzaun. So rot geduftet haben sie, wie jetzt die Schläge hinter den Lidern brennen.
Die Vase habe ich nicht runtergeworfen. Es war doch nur ein Versehen.
Ja, ich bin gerannt, habe nicht hin gesehen. Aber es ist doch nur ein alte hässliche Vase.
Nein, ich habe der Frau die Zunge nicht rausgestreckt. Ich wollte das, aber ich habe es nicht getan. Ich weiß das man das nicht macht.
Ich bin nicht weggelaufen, nur ein Stück voraus. Nur ein ganz bisschen zu weit vielleicht.
Das Fahrrad habe ich nicht irgendwo stehenlassen. Es ist mir geklaut worden.
Ja, es war teuer. Darum habe ich ja auch so geweint als ich es dir erzählt habe.
Und es war rot. So rot wie die Schläge die hinter meinen Lidern brennen.

Komm her“ sagst du, „zu mir!“ Ziehst mich hoch, in deinen Arm.
Ich lehne mich an dich, atme dich ein. Zittere mich zurück zu dir.

Du weißt nicht, wirst es nie wissen können, wo ich bin wenn du mir so nah kommst.
Du warst nicht dabei.
Das ist auch nicht wichtig.
Jetzt ist wichtig und dass du da bist.

Freitag, 28. Oktober 2011

Nachtworte

Ich könnte dir
warme Worte
an die salzige Haut
hinhauchen.
Leise Töne
vom geliebt sein,
vom Wollen


Mich drehen und winden
um dich.,
alles um dich.

Die Angst
vor dem Dunkel
lässt mich
nicht los
lauter reden
dein Schweigen zu übertönen
In meinen Katakomben
hallst du nach

so


Deine Gedanken
so unmöglich
ausgedacht

deine Worte
so unerhört
unaussprechlich

deine Blicke
so unsichtbar
uneinsehbar

deine Berührungen
so unberührbar
unantastbar

deine Nähe
so unnahbar
unfühlbar

so
gedankenlos
schweigend
blind
entrückt

so
hart
in deiner Hand

so
fest
in meinem Herz

immerdar

1
Fehlst
am Tag
und des nachts

fehlst
in den Wiesen
und Feldern
im Wald
und am Meer

fehlst
in allem Denken
und Fühlen
und Sein

fehlst
zwischen den Stunden
den Laken
und Kissen
bei jedem Schritt

ein ewiges
Sehnen
und Suchen
manchmal warm
manchmal kalt
hast du
mein Herz
mich
fest im Griff

Nebelnetze

von Blatt zu Blatt
von Zweig zu Zweig
von Ast zu Ast
von Ast zu Haus
vom Haus
und über die Felder
legen weiße Netze ihre Schleier aus
unter den Nebeln

Herbstlaubfarben
segeln träge zu Boden
in ihr buntes Totenbett

irgendwo
singen Kraniche

ein Schmetterling
schlägt ein letztes Mal
mit taunassen Flügeln
und stirbt einen langsamen Tod

aus roten Morgenschleiern
steigt ein falsches Swarowskiglitzern
ein Fingerzeig genug
alle Spiegel der Welt
in jedem Tropfen
zu zerstören

In diesen Tagen
wartet die Sonne
mit ihrem letztes Strahlen
auf


Donnerstag, 13. Oktober 2011

Das Ende der Allee

Das Telefon in ihrer Hand fühlt sich warm und verschwitzt an. Ein kurzer Blick auf das Display, das noch die Spuren der letzten Telefonate trägt. Sie wischt es kreisend am Ärmel sauber, kontrolliert den Erfolg und lässt den Arm wieder hängen ohne das Telefon abzulegen.
Wieder beugt sie den Oberkörper über das Fensterbrett nach vorn, lehnt die Stirn gegen das Fensterglas. Nur eine Glasschicht, die noch die bläulichen Spuren der Herstellung als geheimnisvolle Schlieren in sich trägt. Das Glas vielleicht schon so alt wie dieses Haus.
Hinter der Stirn brummt ein leichter Kopfschmerz der wohl auch von der Kälte herrührt. So wie man manchmal Kopfschmerzen bekommt wenn man zu schnell zu viel Eis isst.
Unten auf der Straße stehen die schwarzen Skelette der Winterbäume in Reih´und Glied wie die Zinnsoldaten. Ein Baum wie der andere haben sie die letzten Jahrzehnte überdauert und bilden im Sommer ein grünes Dach, das von hier oben fast undurchschaubar ist.

Wie oft hat sie wohl in den letzten Monaten hier oben gestanden und dort herunter gestarrt, das Telefon in der Hand, die Hoffnung im Kopf, er möge doch jetzt bitte sofort dort unten erscheinen, zu ihr hinaufsehen, die Hand heben, lächeln und ihr zuwinken. Nur um ein paar Minuten später durch das alte Stiegenhaus nach oben zu stürmen, sie in den Arm zu nehmen und sie in der engen,langen Diele im Kreis zu schleudern, dass sie sich die Knochen anstößt und das würde ihr gar nichts ausmachen.
Immer wieder hatte er gesagt, er würde kommen, bald. Und vielleicht würde er sogar bleiben, einfach so, weil er nie wieder fortgehen könne von ihr. Einfach alles hinter sich lassen und noch einmal ganz von vorn beginnen, nur sie beide.
Sie hatte ihm geglaubt, jedes Wort, weil alles so ehrlich klang, so voller Hoffnung war und voller Gefühl. Gefühle die nur noch greifbar werden mussten, die einfach tatsächlich werden mussten, weil sie so echt waren, sich so anfühlten.

Aber immer wieder kam ihm etwas dazwischen. Termine, plötzlicher Besuch, Krankheit und schließlich seine Angst vor der eigenen Courage, die, je länger es dauerte, immer geringer wurde, bis sie schließlich ganz verschwand.
Und sie hatte hier oben gestanden, auf die Straße gesehen und gewartet.
Durch das erste helle Grün an den Ästen, durch das dichte Blätterdach, das sich verfärbende Herbstlaub und schließlich durch die kahlen Winterzweige und den ersten Schnee auf den Ästen.
Bis sie endlich begriffen hatte. Ihr Mut würde einfach nicht für beide reichen.
Seine Angst vor dem was kommen könnte war um so vieles größer als die Hoffnung auf das was sein könnte.
Kein Gefühl konnte größer sein als diese Angst, die sie auch mit all ihrem Glauben an sich, die Liebe, an die Zukunft, nicht besiegen konnte.
Es war als führte man einen Hungernden mit gefesselten Händen und vernähten Lippen an einem Büfett entlang, nur um ihm zu zeigen was es alles an Kostbarkeiten gäbe, mit denen man sich den Bauch und die Seele vollschlagen könnte, bis man fast platzen möchte vor Sattheit und Glück.

Sie spürte die aufkommende Kälte, sah an dem Morgen nach der Eisregennacht all die kleinen glitzernden, vereisten Äste herabbrechen und am Boden liegen. All die kleinen Wunden an den verletzten Ästen durch die Kälte eindringen konnte bis auf den Stamm. Im nächsten Frühjahr würde man all die abgestorbenen Spitzen sehen, die jetzt Schaden genommen hatten und die dann den Bäumen einen Teil ihrer Pracht nehmen würde.
Wind kam auf, schlug die Äste klirrend gegeneinander und brach die Eisschicht auf, die in kleinen Scherben wie Schnee unter den Bäumen lag.

Fast ein Jahr hatte sie den Bäumen zugesehen und gewartet.

Heute morgen hatte sie in der Zeitung gelesen, dass demnächst Männer kommen würden, andere Männer, mit großen Sägen und alle Bäume absägen würden weil sie krank waren. So krank dass sie sterben würden. Obwohl sie von außen noch gesund aussahen verfaulten sie von den Stämmen her und über kurz oder lang würde man ihnen ansehen können wie es um sie stand.

Vielleicht würde man neue Bäume pflanzen und sie würde ihnen zusehen können wie sie wuchsen.
Aber dass sie wieder so eine Allee bilden würden, das würde sie wohl nicht mehr erleben.

Sie lehnt mit der Stirn am eisigen Fenster, sieht hinab auf die sterbenden Bäume und ein Gefühl von Trauer nimmt ihr einen Moment den Atem, ein wenig trauert sie auch um die Bäume.



Dienstag, 13. September 2011

Vielleicht nur


Manche Tage sind so.
Da steht man am Morgen auf und denkt man hätte etwas zu feiern, weil es einmal ein Tag war an dem es vielleicht einen Grund hätte geben können seine Wiederkehr Jahr für Jahr zu feiern. Im Rückblick hätte er so etwas wie ein Geburtstag sein können, eine Neu- oder Wiedergeburt. So ein damals-Tag an den man sich gerne erinnert, weil er die Ursache war oder der Anfang.
Aber das was da geboren wurde war gar kein Anlass zur Freude und schon gar nicht für einen wiederkehrenden Feiertag.

Nein, es war eine Fehlgeburt, weil unausgewachsen, nicht vollständig und schon gar nicht lebens- oder überlebensfähig. Das hat nur eine zeitlang gegen den Tod gekämpft, sich wimmernd gewehrt, wollte der Tatsache der Endgültigkeit nicht ins Auge sehen. Das am Leben erhalten war mühselig und so manches mal hat man ihm den Tod gewünscht, damit das Leiden ein Ende hat.
Eine Missgeburt eben, die nur notdürftig nach Leben schrie, sich nach Wärme und alldem gesehnt hat, die man ihm aber angesichts der Gestalt nicht geben konnte. Kein Leben war dem einzuhauchen, weil es nur die Illusion von Leben war.

Eine mühsame Steißgeburt, das beschwanzte Ende voran, mit Klauen und Hörnern bewehrt versucht es ins Leben zu pressen.
Nicht lebenswert, wobei der Wert nie wirklich festgelegt worden ist. Wer hätte die Grenze ziehen wollen? Woher hätte man wissen können in wie weit es sich gelohnt hätte es weiter am Leben zu halten.
Man weiß ja nie was die Zukunft noch bringt und jeder schmiedet sein Glück solange es heiß ist, bis er es endlich zischend in eiskaltes Wasser taucht und sich die endgültige Form offenbart.
Und anstatt eines wohlgeformten Hufeisens kommt dann ein verdrehtes Etwas zutage, nur passend für die verwachsene Klaue der Missgeburt, die darauf noch eine Weile humpelnd ihre Kreise zieht.
Mit jedem Schritt brennt sich das Tock-Tock ihrer Hufe ein und hallt dort in den Tiefen zwischen den Wänden noch lange nach.

Manchmal hört man noch wie es sich seufzend erhebt, ein wenig mit den Hufen scharrt und mit dem Schädel gegen die Wand schlägt, wie zur Erinnerung, dass es noch immer da ist.
Nachts, wenn es ganz allein ist, dann heult es manchmal noch mit dem Wind und heuchelt sich selbst etwas vor, von verlorener Zweisamkeit.


Donnerstag, 3. März 2011

schichtweise


Die Jalousien sind herunter gelassen, wenig Licht dringt durch die schräg gestellten Lamellen. Trotzdem ist es viel zu warm im Zimmer.
Sie starrt in die Luft. Wie lange schon weiß sie nicht mehr. Die Geräusche der Straße dringen wie aus dem Background zu ihr, ohne einen Sinn zu machen.
Mittagsgeräusche. Kinder die von der Schule heimkommen, ihren Frust und die angestaute Kraft heraus lassen. Autotüren die zugeschlagen werden, Hundegebell.

Der eigene Atem erscheint ihr lauter. Sie atmet regelmäßig, ein und aus, ein und aus.
Das lässt sich kaum verhindern, man kann nur eine gewisse Zeit überbrücken in der man den Atem anhält bis irgend etwas wieder einsetzt.
Das Licht zerschneidet den Raum in gelbe Streifen. Staub bewegt sich wie auf Schienen die scheinbar im Unendlichen enden. Die Augen folgen den Bewegungen.
Ihr Körper stellt sich schichtweise dar.
Vielleicht liegt im Zählen der Streifen und in der Anzahl von Licht und Schatten eine Antwort.
Dazu müsste sie sich bewegen, wodurch sich wahrscheinlich das Ergebnis verfälschen würde.
Sie betrachtet die Lichtstreifen die ihren Arm und den Körper diagonal zerschneiden.
Was bliebe wohl übrig wenn man die einzelnen Schichten trennen und wieder sortiert zusammensetzen würde?
Beides bliebe unvollständig, wäre nicht funktionstüchtig, bliebe ohne Mitte.
Aber was würde sie vermissen wenn man sie in Streifen schneiden würde?
Sie hebt langsam eine Hand und fährt vom Hals abwärts durch die Streifen, wundert sich dass dabei kein Geräusch entsteht.

Es klingelt an der Tür. Sie könnte jetzt aufstehen, müsste dann vielleicht jemanden hereinlassen der sich über die Dunkelheit wundern würde. Vielleicht sich sogar ungefragt an den Jalousien zu schaffen machen würde um Licht herein zu lassen.
Noch einmal die Klingel, energischer. Sie bleibt sitzen, wie gefangen in den tanzenden Staubkörnern die sie wie eine Wolke umgeben.
Ein letzter Versuch, das typische lange Klingeln. Dann ist endlich Ruhe.
Sie will nicht gestört werden in ihrer trägen Dunkelheit, einfach so weiter mit der staubigen Luft auf den Gedanken dahintreiben. Vielleicht enden sie irgendwann.

Sie will allein sein, wenn sie mit den Fingern immer wieder unter die verschorfte Kruste fährt um sie Stück für Stück wieder auf zu brechen. Darunter brennt eine nicht heilen wollende Wunde, pochendes Fleisch, entzündlich rot. Wenn man mit zwei Fingern auf die schmerzhaft geschwollene umgebende Haut drückt dann quillt ein brennendes Sekret heraus. Ein Aderlass für den Schmerz.
Wenn die Taubheit nicht wäre könnte man ihn beständig fühlen, wie er sich mit jedem Herzschlag durch den Körper pulsiert, einen langsam aber stetig ungebremst abwärts in den Wahnsinn treibt.
Die Nervenenden vibrieren ständig, ruhelos. Jeder Gedanke ein Auslöser damit man nicht vergisst.
Es scheint als könne man sich nur mit kochendem Wasser reinwaschen, damit wenigstens die eigenen Schreie das Schweigen durchbrechen.
Unerträgliche Stille, der drei Gestalten gegenüber sitzen.
Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, als könnte man das Vergessen so beschleunigen und die getretenen Pfade würden einfach wieder zuwachsen.
Nur bleiben Steine auch dann noch Steine wenn sich eine dicke Schicht Moos auf sie legt, auf dem man jederzeit abrutschen kann, um mit verdrehten Gelenken keinen Schritt mehr weiter zu kommen.
Sehnen reißen an Stellen an denen sie keinen Halt geben, an denen nur sehnen ist.

Wenn das Wasser bis zum Hals steht bräuchte man nur in die Knie gehen, wenn da nicht irgend etwas wäre weshalb man sich weiter halbwegs aufrecht durch die zähe graue Stille schiebt.
Vielleicht gibt es einen Rand an dem man nicht stürzt, an dem die Steine von unendlich vielen mühsamen Schritten zu Staub zermahlen sind, der sich warm und weich durch die Zehen schiebt
Der stete Tropfen höhlt den Stein, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Etwas krümmt sich unter solchen Phrasen wie unter der Marter steter Tropfen die immer an der gleichen Stelle auftreffen und sich beständig zu einem Martyrium des Lärms auswachsen in dem man verdurstet.

Mit aufrechtem Oberkörper und langgestrecktem Arm tastet sie mit den Fingerspitzen nach dem alten Brieföffner. Ein kleiner Messingsäbel, noch scharf wie am ersten Tag.
Man muss damit nur ganz zart über das Papier fahren und es zerfällt.
Wieviele Briefe er wohl schon geöffnet hat die später sorgfältig gefaltet in ihren fast unversehrt erscheinenden Umschlag zurückgeschoben wurden um in Schubladen, Kisten und Schränken mit den dazugehörigen Fotos aufbewahrt zu werden.
Was für Nachrichten hatte der scharfe Schnitt schon offenbaren müssen?
Wieviele Leben und Träume waren damit schon seziert worden?
Fast bewegungslos gelingt es ihr den Ärmel des auf der Lehne ruhenden Arms hochzuschieben. Das Schattenmuster flimmert ein wenig auf der Haut, beruhigt sich wieder.
Mit der Klinge fährt sie entlang der Linien. Dünne Blutspuren folgen den Linien, kleine Tropfen quellen an den Seiten hervor, als würde dort etwas nach außen dringen wollen.
Nach neun Schnitten ist sie an der Ellenbeuge angelangt. Neun saubere gerade Linien bis hinunter zur Hand. Eine Weile sieht sie hin, wartet auf den Schmerz der sich nicht einstellen will. Waagerecht schiebt sie die Klinge zwischen die ersten beiden Linien, das Metall ist unter der Haut zu erkennen. Die Konturen bewegen sich wie ein Fremdkörper von einem Ende zum anderen.
Schließlich löst sie vier schmale Hautstreifen von ihrem Arm und legt sie vor sich auf den Tisch.
So recht weiß sie nicht was sie damit anfangen wird, auch nicht mit den fleischigen Wunden auf dem Arm.
Später wird sie sich vielleicht daran erinnern dass man solche Wunden auch verbinden kann.


Montag, 14. Februar 2011

Valentins Tag



Man hätte meinen können er käme irgendwo aus dem Süden oder aus der Vergangenheit, bei dem Namen. Da aber das Gegenteil der Fall war und er im Norden geboren worden war, zwar nicht in der Zukunft, aber in der Gegenwart die nach einer Vergangenheit kam die noch nicht so weit zurück lag, nur knappe drei Jahrzehnte und ein bisschen. Aber genau das war der Grund warum man ihn in der Kindheit ständig gehänselt hatte, nur wegen des Namens. Er war kein Brillenträger, kein Stotterer, hatte keine roten Haare und auch keine O-Beine. Einzig und allein mit seinem Namen war er schon gestraft genug.
Es war nicht so dass er nicht Fußball spielen konnte, sie ließen ihn einfach nicht, weil er Valentin hieß. Lieber hätte er Mark oder Dennis oder Florian geheißen, wie die anderen, weil, Valentin ließ sich ja nicht einmal vernünftig abkürzen. Blöd war das, gab sich aber so ungefähr mit 12 oder 13, als die Mädchen etwas romantisches an seinem Namen entdeckten. Eben weil er nicht hieß wie alle anderen.
Na gut, wenn sie meinten, dann wurde er eben romantisch, aber erst zwei Jahre später, bis dahin war es ihm eher peinlich wie sie ihn anschmachteten.
Dann sah er die Blicke der anderen, die sich an die Körper der Mädchen hefteten die ihre Blicke wiederum auf ihn richteten und sah seine Chance es ihnen endlich heim zu zahlen.
Er tat nichts, außer mit einem Buch oder einem verträumten Blick unter den Bäumen zu sitzen und zu warten. Kichernde Mädchengruppen umringten ihn in gebührendem Abstand, stießen sich jedes Mal an wenn er wieder versonnen eine Seite umblätterte und seine Blicke über den Köpfen schweifen ließ ohne eine ins Auge zu fassen.

Wieso war das bei den Mädchen eigentlich anders? Wenn da eine Claire oder Luise hieß, dann hatte sie gleich viel bessere Karten wegen ihres Namens.
Schließlich war aber eine der vielen Annas diejenige die er wählte.
Anna hieß eigentlich Anna-Lena, fand das aber doof, weil drei andere in ihrer Klasse auch so hießen.
Anna saß oft am Rand, kicherte selten und las viel, außerdem trug sie eine Brille und hatte rote Haare. Und wenn sie aufgeregt war bekam sie rote Flecken am Hals, das fand er niedlich. Die bekam sie auch als er sie ansprach. Er hatte lange überlegt wie er es anfangen sollte und sagte dann einfach nur: „Hey, ich bin Valentin.“
Sie sah kaum von ihrem Buch auf und murmelte, mit roten Flecken am Hals, so etwas wie „Ich weiß.“
Bis zum ersten Kuss dauerte es noch eine Weile zwischen ihnen, er unerfahren und sie schüchtern. Aber mit den Monaten näherten sie sich nestelnd und fummelnd Haut an Haut. Vom ersten Mal waren sie beide enttäuscht, sie hatten es sich anders vorgestellt. Wie, konnten sie nicht sagen, als sie schweigend nebeneinander lagen, eben anders.
Irgendwann war Schluss. An den Grund konnte er sich nicht mehr erinnern.
Aber die Annas ließen ihn nicht los. Nicht vom Namen her, aber die schüchternen, stillen.
Wenn sie verlegen den Blick senkten strich er ihnen die Haare aus dem Gesicht, legte seine Finger um ihren Nacken und seine Lippen auf ihre. Die Annas mochten es wenn sie selbst nicht aktiv sein mussten.

Valentin lernte bald wie man am besten mit ihnen umgehen musste, damit sie weich wurden und bereit.
Stille Wasser sind tief, das galt auch für Annas.
Und er lehrte sie das Eintauchen in ihre Tiefen.
Aus manch einem schüchternen Anna-Entlein wurde ein stolzer Schwan der seine Runden in anderen Gewässern zog. Er ließ sie gehen, ganz ohne Bedauern..


Jetzt saß wieder so eine Anna vor ihm, senkte den Kopf als er sie ansprach und zuckte nur kurz, fast unauffällig, mit den Schultern als er fragte ob neben ihr noch frei sei?
Er warf ihr Frage um Frage vor, zuerst nur stockend, dann steigerte er den Rhythmus, forderte mehr als nur Ja-Nein-Antworten. Sie ließ sich ein, zuerst auf das Gespräch und später auf ihn. Die zufälligen Berührungen, sein Bein an ihrem, die Hand auf ihrem Arm, oder wie zufällig so nah neben der ihren auf dem Tisch dass sich die Härchen berührten. Er bestellte Wein, weiß für sie und Roten für sich.
Nach dem dritten ungewohnten Glas begann sie zu kichern, lehnte den Kopf an seine Schulter. Jetzt konnte er seinen Griff wagen.
Sie wurde beim Kuss weich wie ihre warmen Lippen auf seinen.
Nur nicht zu schnell, nicht alles verderben. Man soll immer aufhören wenn es schön werden könnte.
Er brachte sie bis vor die Tür, ganz Gentleman. Sie sagte sie hieße Josy, eigentlich Josefina, aber das wäre ihr zu gewöhnlich. „Für mich bist du Anna.“
Ein letzter Kuss.

Josy stieg mit heißem Schoß die Treppe hinauf, lehnte sich selig von innen an die Tür, umarmte sich selbst und ihr Glücksgefühl. Die Schuhe zog sie im Gehen aus, ließ den Mantel fallen und dachte unter der Decke noch lange an ihn und seine Küsse.
Valentin nahm einen Umweg, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf in Gedanken gesenkt. Morgen würde er sie wiedersehen.


Er saß auf ihrem Sofa, gab sich lässig, obwohl sie ihm bereits wichtig war.
Musik rieselte leise über sie hin. Sie holte Wein und zwei Gläser, schenkte ein, setzte sich zu seinen Füßen und lehnte den Kopf gegen sein Bein. So ließ das schüchterne Schweigen sich besser aushalten. Sie lauschten den Tönen. Seine Hand legte sich in ihr Haar.
Er dachte an einen Mann im Ledersessel, mit Cognac und Zigarre, der wie nebenbei seine treue Hündin streichelt.
Sie hatte wie selbstverständlich ihren Platz gefunden. Ein Gefühl von Wärme und Vertrautheit zwischen ihm und der fremden Anna, die jetzt wohlig seufzte und wahrscheinlich die Augen geschlossen hatte.
Zieh dich aus.“ Die Worte sprach er leise, als wäre es völlig normal das von ihr zu fordern.
Sie stand auf, kein Widerspruch, legte langsam, ohne ein Zögern die Kleidung ab, stand nackt vor ihm und versuchte sich hinter den schmalen Händen zu verbergen.
Valentin klopfte mit der Hand neben sich auf das Polster. „Leg dich hier zu mir.“

Anna, die eigentlich Josy heißt, liegt jetzt neben ihm, bebt ein wenig weil sie nicht weiß was sie erwartet. Seine Blicke und Hände wandern über sie. Er ertastet sie wie ein Blinder der sich alles tief in die Erinnerung einprägen will.
Eine beklemmende Angst steigt in ihm auf, dass sie sich unter seinen Händen einfach auflösen könnte.
Man muss sich seinen Ängsten stellen, denkt er und schließt die Augen. Er versucht darauf zu vertrauen dass sie noch da ist wenn er die Augen wieder öffnet. Das sie noch Anna ist wenn er sie wieder ansieht und nicht vielleicht doch nur Josy. Sie könnte ihren Zauber verlieren und er sie, obwohl er ihr so nah ist, sie in Händen hält.
Das wird er nicht zulassen.

Unbewusst greifen seine Hände fester zu, damit sie ihm nicht entweichen kann.
Anna – Josy – Anna scheint das zu gefallen, sie windet sich neben ihm.
Ihm ist das nicht genug, er will sie näher bei sich, ganz nah, zieht sie auf seinen Schoß.
Ihren Kopf bettet er wie den eines Kindes in seiner Armbeuge, presst sie fest an seine Brust. „Keine Angst Anna, meine Anna, ich halte dich, ganz fest.“
Mit geschlossenen Augen beugt er sich über sie, streicht ihr die Haare hinter das Ohr, mit den Fingern ihren Hals hinab und ruht in der kleinen Kuhle über dem Schlüsselbein.
Die Bewegungen ihrer Gliedmaßen nimmt er nicht wahr.
Dann wird Anna, seine Anna, ganz still und weich in seinem Arm.



Sonntag, 2. Januar 2011