Donnerstag, 3. März 2011

schichtweise


Die Jalousien sind herunter gelassen, wenig Licht dringt durch die schräg gestellten Lamellen. Trotzdem ist es viel zu warm im Zimmer.
Sie starrt in die Luft. Wie lange schon weiß sie nicht mehr. Die Geräusche der Straße dringen wie aus dem Background zu ihr, ohne einen Sinn zu machen.
Mittagsgeräusche. Kinder die von der Schule heimkommen, ihren Frust und die angestaute Kraft heraus lassen. Autotüren die zugeschlagen werden, Hundegebell.

Der eigene Atem erscheint ihr lauter. Sie atmet regelmäßig, ein und aus, ein und aus.
Das lässt sich kaum verhindern, man kann nur eine gewisse Zeit überbrücken in der man den Atem anhält bis irgend etwas wieder einsetzt.
Das Licht zerschneidet den Raum in gelbe Streifen. Staub bewegt sich wie auf Schienen die scheinbar im Unendlichen enden. Die Augen folgen den Bewegungen.
Ihr Körper stellt sich schichtweise dar.
Vielleicht liegt im Zählen der Streifen und in der Anzahl von Licht und Schatten eine Antwort.
Dazu müsste sie sich bewegen, wodurch sich wahrscheinlich das Ergebnis verfälschen würde.
Sie betrachtet die Lichtstreifen die ihren Arm und den Körper diagonal zerschneiden.
Was bliebe wohl übrig wenn man die einzelnen Schichten trennen und wieder sortiert zusammensetzen würde?
Beides bliebe unvollständig, wäre nicht funktionstüchtig, bliebe ohne Mitte.
Aber was würde sie vermissen wenn man sie in Streifen schneiden würde?
Sie hebt langsam eine Hand und fährt vom Hals abwärts durch die Streifen, wundert sich dass dabei kein Geräusch entsteht.

Es klingelt an der Tür. Sie könnte jetzt aufstehen, müsste dann vielleicht jemanden hereinlassen der sich über die Dunkelheit wundern würde. Vielleicht sich sogar ungefragt an den Jalousien zu schaffen machen würde um Licht herein zu lassen.
Noch einmal die Klingel, energischer. Sie bleibt sitzen, wie gefangen in den tanzenden Staubkörnern die sie wie eine Wolke umgeben.
Ein letzter Versuch, das typische lange Klingeln. Dann ist endlich Ruhe.
Sie will nicht gestört werden in ihrer trägen Dunkelheit, einfach so weiter mit der staubigen Luft auf den Gedanken dahintreiben. Vielleicht enden sie irgendwann.

Sie will allein sein, wenn sie mit den Fingern immer wieder unter die verschorfte Kruste fährt um sie Stück für Stück wieder auf zu brechen. Darunter brennt eine nicht heilen wollende Wunde, pochendes Fleisch, entzündlich rot. Wenn man mit zwei Fingern auf die schmerzhaft geschwollene umgebende Haut drückt dann quillt ein brennendes Sekret heraus. Ein Aderlass für den Schmerz.
Wenn die Taubheit nicht wäre könnte man ihn beständig fühlen, wie er sich mit jedem Herzschlag durch den Körper pulsiert, einen langsam aber stetig ungebremst abwärts in den Wahnsinn treibt.
Die Nervenenden vibrieren ständig, ruhelos. Jeder Gedanke ein Auslöser damit man nicht vergisst.
Es scheint als könne man sich nur mit kochendem Wasser reinwaschen, damit wenigstens die eigenen Schreie das Schweigen durchbrechen.
Unerträgliche Stille, der drei Gestalten gegenüber sitzen.
Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, als könnte man das Vergessen so beschleunigen und die getretenen Pfade würden einfach wieder zuwachsen.
Nur bleiben Steine auch dann noch Steine wenn sich eine dicke Schicht Moos auf sie legt, auf dem man jederzeit abrutschen kann, um mit verdrehten Gelenken keinen Schritt mehr weiter zu kommen.
Sehnen reißen an Stellen an denen sie keinen Halt geben, an denen nur sehnen ist.

Wenn das Wasser bis zum Hals steht bräuchte man nur in die Knie gehen, wenn da nicht irgend etwas wäre weshalb man sich weiter halbwegs aufrecht durch die zähe graue Stille schiebt.
Vielleicht gibt es einen Rand an dem man nicht stürzt, an dem die Steine von unendlich vielen mühsamen Schritten zu Staub zermahlen sind, der sich warm und weich durch die Zehen schiebt
Der stete Tropfen höhlt den Stein, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Etwas krümmt sich unter solchen Phrasen wie unter der Marter steter Tropfen die immer an der gleichen Stelle auftreffen und sich beständig zu einem Martyrium des Lärms auswachsen in dem man verdurstet.

Mit aufrechtem Oberkörper und langgestrecktem Arm tastet sie mit den Fingerspitzen nach dem alten Brieföffner. Ein kleiner Messingsäbel, noch scharf wie am ersten Tag.
Man muss damit nur ganz zart über das Papier fahren und es zerfällt.
Wieviele Briefe er wohl schon geöffnet hat die später sorgfältig gefaltet in ihren fast unversehrt erscheinenden Umschlag zurückgeschoben wurden um in Schubladen, Kisten und Schränken mit den dazugehörigen Fotos aufbewahrt zu werden.
Was für Nachrichten hatte der scharfe Schnitt schon offenbaren müssen?
Wieviele Leben und Träume waren damit schon seziert worden?
Fast bewegungslos gelingt es ihr den Ärmel des auf der Lehne ruhenden Arms hochzuschieben. Das Schattenmuster flimmert ein wenig auf der Haut, beruhigt sich wieder.
Mit der Klinge fährt sie entlang der Linien. Dünne Blutspuren folgen den Linien, kleine Tropfen quellen an den Seiten hervor, als würde dort etwas nach außen dringen wollen.
Nach neun Schnitten ist sie an der Ellenbeuge angelangt. Neun saubere gerade Linien bis hinunter zur Hand. Eine Weile sieht sie hin, wartet auf den Schmerz der sich nicht einstellen will. Waagerecht schiebt sie die Klinge zwischen die ersten beiden Linien, das Metall ist unter der Haut zu erkennen. Die Konturen bewegen sich wie ein Fremdkörper von einem Ende zum anderen.
Schließlich löst sie vier schmale Hautstreifen von ihrem Arm und legt sie vor sich auf den Tisch.
So recht weiß sie nicht was sie damit anfangen wird, auch nicht mit den fleischigen Wunden auf dem Arm.
Später wird sie sich vielleicht daran erinnern dass man solche Wunden auch verbinden kann.


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