Sonntag, 3. Oktober 2010

Hinterglas - grau-zone





Dienstag, 10. März 2009 - 14:57 Uhr
Hinterglas


Sie stand am Fenster, das Dunkel war vor der Scheibe, hinter ihr im Raum und mittendrin in ihr.
Das einzige was sie spürte war die Kälte der großen Glasscheibe vor ihr.
Ihre Stirn war nur Millimeter vom Glas entfernt. Würde sie sich jetzt dagegen lehnen, dann würde man beim nächsten Sonnenschein den fettigen Abdruck ihrer Stirnfalten dort erkennen können.
Sie würde diesen Fleck betrachten, stundenlang würde sie darauf starren, bis sie endlich den Blick davon nehmen könnte um aufzustehen.
Sie würde einen der sorgsam gefalteten Lappen aus der oberen rechten Schublade nehmen, dann die Tür darunter öffnen und die Flasche mit dem Glasreiniger nehmen. Die dritte Flasche in der vorderen Reihe, die so stand, dass man den Sprühhebel gleich richtig in der Hand hielt.
Mit der anderen Hand würde sie die Düse auf "spray" stellen um seufzend vor der Scheibe zu stehen und den Strahl auf den Fleck richten. Sie würde solange putzen bis all ihre Spuren beseitigt wären.
Bis nichts mehr zu erkennen wäre von ihrer Anwesenheit, als wenn sie niemals hier gewesen wäre., unsichtbar.
Keine Spuren zu hinterlassen, das war das wichtigste.
Spuren bereiteten ihr Unbehagen, alle, immer und überall.
In ihrem Leben hatte alles einen festen Platz und Plan.
Staub wischen täglich, morgens und abends.
Das Bad putzte sie nach jeder Benutzung, genauso die Küche.
Den Boden wischte sie jedesmal auf wenn sie von draußen herein kam, deshalb vermied sie es die Wohnung unnötig zu verlassen.
Alles andere waren Automatismen, die keinerlei Begründung brauchten.
Das hier war ihre keimfreie Schutzhülle, es herrschte Ordnung, penibel durchstrukturiert.
Hier würde sie sich jederzeit zurechtfinden, selbst wenn sie plötzlich von einem Tag auf den anderen erblinden würde.
Jede Veränderung, jeder neue Gegenstand würden sie nur zu neuen Überlegungen, zu völliger Umstrukturierung des Gewohnten zwingen.
Sie hatte schon ganze Tage damit zugebracht alles umzuräumen, neu zu ordnen und gründlich zu putzen, nur weil eines ihrer gewohnten Produkte unsinnigerweise eine neue Verpackung bekam.
Sie hasste Veränderungen, sie machten alles so kompliziert.
Geschenke waren auch so etwas kompliziertes, meist sowieso nur unnötiger Tand wie hässliche Porzellankatzen oder verschnörkelte Kerzenleuchter.
In ihrem ganzen Leben hatte es nie eine Katze gegeben und Kerzen zündete sie auch nie an. Das Geflacker machte sie halb wahnsinnig.
Irgendwann, als endlich niemand mehr zu ihr kam, der neben all dem Schmutz solch lästige Dinge in ihre Wohnung brachte, da hatte sie all das in einen Karton verstaut, ihn fest zugeklebt um ihn dann ganz hinten im Schrank zu verstauen.
Niemand mehr, der nach Porzellankatzengeschenken Ausschau hielt und dabei jeden Krümel und jeden Fussel erspähen würde, die ihr entgangen waren.
Niemand mehr, der ihre Sofakissen verknüllte und faltig saß, der Ränder und Krümel hinterließ, etwas verrückte und anfasste.
Jedesmal hatte sie hinterher Stunden gebraucht um wieder Ordnung zu schaffen.
Nach dem letzten Besuch hatte sie sich nach dem Abschied aufatmend an die Tür gelehnt und war angesichts des Chaos fast verzweifelt.
Vielleicht hatten sie ihr Unbehagen auch gespürt, weil schließlich wirklich niemand mehr kam.
Keine Unordnung, keine Geschenke, kein Schmutz und vor allem nicht all diese unnützen Worte.
Sinnlos schwirrten sie ihr tagelang noch durch den Kopf.
Sie wusste nichts von den Menschen um sie herum, sie wollte auch nichts wissen. Sie wusste ja von sich selbst kaum genug, wollte auch nichts wissen.
Essen und trinken musste sie, alles andere erledigte ihr Körper ganz von allein, die Zusammenhänge kümmerten sie nicht.
Das war alles sinnvoll eingerichtet und hatte seine Ordnung aus sich selbst heraus.
Bedürfnisse hatten keinen Raum in ihrem Leben.
Die wenigen, die sich an die Oberfläche hätten wagen können, wie Hunger und Durst hielt sie mit festen Zeiten und Riten streng im Griff.
So konnten sie gar nicht erst entstehen und für Irritationen sorgen, solange nur alles in festen Bahnen lief.

Dass sie hier jetzt stand und aus ihrem Dunkel in das Dunkel dort draußen starrte, das war abseits ihrer Ordnung, schon fast Chaos.
Eine einzige, kleine Einzelheit hatte sie aus der Bahn geworfen, aus ihren Kreisen um sich selbst eine Ellipse werden lassen.
Sie spürte diese Unwucht in sich.
Die Töne in ihrem Kopf waren kein gleichtöniges, rundes "ssssss" mehr,
sie waren zu einem "ssssss - wosch - ssssss - wosch - ssssss - wosch"
geworden und das "wosch" wurde immer lauter.
Ein Nachhall in ihrem Schädel, der, wie in stereo, die Seite wechselte und mit jedem "wosch" seitlich gegen ihren Schädel schlug und dabei stetig an Schwung dazugewann.
Das warf sie aus ihrer gewohnten Bahn und zwischenzeitlich hatte sie das Bedürfnis sich im Gleichklang pendelnd mit dem "wosch" zu bewegen, wohlweislich sich damit noch mehr aus der Spur zu schleudern.
Ein gefühltes Bedürfnis, es grauste sie davor, aber trotzdem hatte sie ihm nachgegeben. Seit ein paar Minuten wiegte sie den Kopf im Takt des "wosch" von einer Seite zu anderen.
Das Licht der Straßenlaterne zeichnete einen Lichtbogen vor ihren Augen und ihre Bewegungen brachten das "wosch" noch mehr zum Schwingen.
Sie bewegte ihren Kopf schneller und schneller, fühlte dabei, wie ihr Hirn im Innern ihres Kopfes seitlich an die Hülle klatschte.

Etwas kehrte zurück, aus dem "wosch - sss - wosch - sss - wosch" wurde ein "watsch - watsch - watsch", ihr Kopf flog hin und her.
Worte drangen zu ihr, unordentlich und böse.
Sie war unordentlich und böse gewesen, schmutzig. Das watsch war ihre logische Konsequenz daraus gewesen.
Die Konsequenz wenn sie unordentlich, bedürftig oder schmutzig gewesen war.
Wenn sie Marmelade mit den Fingern aus dem Glas genascht hatte (diese Keime, Dreck), ein Brot gegessen hatte, zur Unzeit, gegen den Hunger (maßlose Gier), ein Fleck auf dem Kleid (Dreck), Schande war das alles.

Mit dem großen scharfen Messer hätte sie sich ohne Mühe einen Finger abtrennen können, aber sie schaffte es nicht, auf dem wackligen Stuhl stehend, eine Scheibe Brot gerade abzuschneiden.
Vermeintlich hatte sie alle Krümel aufgewischt, alles wieder an seinen Platz geräumt, aber die Spuren, die sie hinterlassen hatte, sah man dem Brotlaib deutlich an. Jeder konnte und musste sich ansehen was sie getan hatte, später trug sie ebensolche Spuren deutlich in ihrem Gesicht "watsch".
Bedürfnisse hinterließen immer Spuren, sichtbare und unsichtbare, jeder sah sie, Schande.
Trotz allem waren die unsichtbaren die, die sich einprägten, innerlich wie äußerlich.
Trotz allem hatte es Jahre gedauert bis sie gelernt hatte, ihre Bedürfnisse zu zähmen, ihren Hunger zu unterdrücken und letztendlich hatte sie auch gelernt Brotscheiben spurlos gerade abzuschneiden.
Trotz allem genügte ein einziger Krümel um sie und ihre unstillbare Gier zu verraten.
Jeder Krümel bedeutete Schuld, ihre Schuld, niemand anderes im Hause war so gierig wie sie, alle anderen warteten auf die Mahlzeiten.
Aber sie hatte ihre Methoden, Gier konnte man mit Hunger bekämpfen, wie man böse Worte mit Seife auswaschen konnte, bis es tief im Hals schäumte.
Sie lernte zu hungern, erst einen Tag dann 2 und 3 Tage.
Sie saß in ihrer Kammer und zählte die Lichtflecken, die das Muster der Gardinen durch die Fenster auf den Boden und an die Wände warf.
Jeder Windhauch, jede Wolke brachten Unordnung, Chaos und sie wieder an den Anfang zurück.
An den Anfang von Hunger, Gier und Schuld.
Wieder begann sie die Schandflecken, wie sie sie nannte, zu zählen, die an den Wänden und auf dem Boden, die auf ihrem Körper zählte sie nie.

Drei Tage später saß sie stumm am Tisch, starrte auf die akkurat abgeschnittene Scheibe graues Brot ohne auch nur einen Bissen davon zu wollen.
Alles schien ihr grau und trocken wie das Brot, die Fadheit der Umgebung färbte ab, auf ihr Brot, ihre Seele, auf ihr leben.
Alles blassgrau, spurlos, unsichtbar.
Spurlose Reinheit, keimfreie erste Schritte.
Wer nichts nahm musste auch nichts hergeben.
Wäre sie damals einfach dort sitzengeblieben und hätte sich nach und nach im halbdunkel aufgelöst, niemand hätte es bemerkt.
Jemand hätte Tage später ärgerlich ihren Stuhl an den Tisch geschoben, allerhöchstens hätten sie die Möglichkeit vermisst irgendwo auf ihr ihre Spuren hinterlassen zu können.

Sie hatte noch Jahre in dem Halbdunkel zugebracht, hatte zugesehen, wie das Resopalmuster des Küchentisches unter dem täglichen scheuern stetig verblasste und wie sich der dunkelrote Linoleum langsam an den rissigen Kanten auflöste um mit seiner hässlichen Unterseite gierig nach Leben zu blecken.

Heimlich hatte sie für die Herstellung der eigenen Ordnung gespart.
Hals über Kopf zu handeln hatte man ihr gleich oberhalb des Herzens abgeschlagen.
Andere rebellierten, probten den Aufstand und die Freiheit, sie saß aus und wartete, abseits, wo nichts und niemand störend in ihre Ordnung eindringen konnte.
In vorgeschobenen Überstunden richtete sie sich heimlich ein, schlicht, alles für 6 Personen, wie üblich und ein schmales Bett.
Ein Bett das keinen Platz ließ für Bedürfnisse und Gier, das hatte sie bis dahin nicht erlebt und auch niemals in all den Jahren danach.
Nicht einmal solche Träume hatte sie, wovon auch hätte sie träumen können.
Als alles bereit war ging sie, wortlos, spurlos, ließ alles hinter sich, zumindest offensichtlich.

Nur selten gab sie jemandem einen oberflächlichen Einblick in sich, wobei Einblick schon ein zu tiefgreifender Begriff war.
Sie wirkte glatt und kühl, bis schlussendlich alle aufgaben und sie alles in dem Karton verstaute. Man nahm sie hin, aber kaum noch wahr.
20 Jahre dort, 20 Jahre hier und jetzt stand sie hier im Dunkel, bewegte sich immer schneller zu den Geräuschen in ihrem Kopf.
Wie eine Dampflok, immer schneller, wosch --- wosch --- wosch -- wosch -- wosch -- wosch - wosch - wosch - wosch wosch - woschwosch - woschwoschwosch, die keine Möglichkeit hatte den Dampf abzulassen.

Begehren, spüren wollen, Körper und Geist in Schwingungen versetzen, Rotationen.
Da war ein Beben in ihr, das sich ihrem Selbst stetig donnernd näherte.
War das nur der Überdruck, die Gier, grundsätzliche Bedürfnisse, die sich Raum schaffen wollten?
Es bebte, donnerte und tobte sich nach außen hin durch, wie alte Haut die sich schält, reißt und durch die man sich selbst entschlüpfen könnte.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, zitterte, zuerst nur die Beine, dann der ganze Körper.
Sie spürte sich, ihren Körper, das erste Mal seit langem.
Mehr davon, sie wollte mehr.
Auf eiskalten Wellen reiten, aus allen Wolken fallen, heißen Sand zwischen den Zehen, der die Haut dazwischen verbrannte, über glühende Kohlen laufen und das verbrannte Fleisch riechen.
Brennen war wichtig, vielleicht, wenn sie noch eine Weile so stand, vielleicht würde sie sich selbst entzünden.
Zuerst sich, dann die Gardinen, dann den Rest und der Feuerschein würde in der halben Stadt zu sehen sein.
Aber vorher musste sie noch etwas tun, fühlen, spüren was Leben ist.
Langsam öffnete sie den Mund und entließ den sich aufbäumenden Schrei, stumm zuerst, dann immer lauter, grell und beißend, bis die Welt dort draußen in Scherben sprang.
Kleine Splitter davon trafen sie, Blutfäden zeichneten Spuren als sie ging.
Unter freiem Himmel wollte sie schlafen, in dieser Nacht und in allen folgenden.

Monate später kannte sie jeder in der Stadt.
Die eingewachsenen Splitter in ihrer Haut hatten dicke rote Beulen hinterlassen und von Zeit zu Zeit stand sie irgendwo barfuß und ließ mit ihrem Schrei die Scheiben bersten.






Mittwoch, 28. Januar 2009 - 14:15 Uhr
grau-zone


"Weißt du," murmelte sie vor sich hin, während sie mit einem Auge die Reihen des frischgrünen Wintergetreides zählte, "so lange ist das gar nicht mehr hin."

Sein Schritt, immer um eine grüne Reihe länger als der ihre, war ihr ein Stück voraus, und er hörte nichts von ihrem Gemurmel.
Vielleicht hätte er sonst gefragt, was gar nicht mehr so lange hin ist.

"Wir sind schon längst nicht mehr so wie die Wintergerste, wir sind schon mehr halbreif, nicht mehr lange und die Ernte steht an.
Noch einen Frühling, einen warmen Sommer und dann kommt unser Herbst.
Noch recken und strecken wir uns allem entgegen und sind doch niemals gewiss, wann der nächste Sturm uns bricht.
Vielleicht biegt er uns nur ein wenig und wir richten uns wieder auf.
Das würde ich mir wünschen, das wir es bis zur Erntezeit schaffen.
Ein zartes Frühjahr, alles langsam wachsen und gedeihen lassen können.
Und einen heißen Sommer, der lange hält.
Ein Sommer in dem alles zu brennen scheint, in dem die Hitze nur so flirrt.
In dem man vergehen möchte vor Glut und nachts verschwitzt in die Laken sinkt.
Zur Langsamkeit gezwungen.
Am Abend lange Gespräche in der Dunkelheit, wenn rundum die Grillen zirpen.
So nah sein, das auch dunkle Tage nichts ausmachen, weil die Hitze hält.

Irgendwann gleitet der Sommer ganz unbemerkt in den Herbst.
Golden muss er nicht sein, nur die Wärme sollte bleiben, damit ausreifen kann was wir einst gesät haben.
Und lang sollte er sein, damit die Ernte noch auf sich warten lassen kann."

Inzwischen hatten graugelbe, morsche Maisstrunken das Grün abgelöst und in der halb umgekippten Unordnung gab es nichts mehr zu zählen.
Aber Zahlen und Fakten waren auch nur Randerscheinungen bei dem was sie bewegte.
Wie unwichtig waren Stunden, Tage, Jahre, wenn man nie wusste wie lange es noch dauern können würde.
Die Differenz zwischen plötzlich und unendlich war einfach zu unübersichtlich.
Das Ziel war immer in unerreichbarer Ferne, unsichtbar sozusagen.
Die Realität konnte ganz anders, viel schmerzlicher aussehen, so vieles, was dazwischenkommen, alles verändern könnte.
Plötzliche Kurven, die die Richtung verändern würden.
Manchmal war es nur ein Hauch von Zeit, der alles veränderte.
Ein falscher Griff, ein unbedachter Schritt und alles würde sich verändern.
Ob das nun geplant oder gewollt wäre, von irgendwem, ob es zwangsläufig so sein musste, oder ob man dadurch wirklich alles veränderte, dem Leben eine andere Richtung gab, oder nur der vorgegebenen Richtung folgte. Wer konnte solche Fragen schon beantworten. Und was würde sich ändern, wenn man die Antwort wüsste?

" Weißt du, ich glaube dass bis hierher alles gut und richtig war, weil es ist, wie es ist.
Wenn auch nur ein Schritt anders gewesen wäre, dann würden wir jetzt nicht hier gemeinsam gehen.
Das ist ein Gefühl wie auf dem richtigen Weg zum Ziel zu sein.
Noch zählen wir unsere neuen Falten und die grauen Haare, die von Zeit zu Zeit hinzukommen.
Irgendwann wird auch all das unwichtig sein, dann verlieren Anti-Ageing Produkte ihren Sinn und vielleicht habe ich irgendwann lange graue Haare.

Ich habe nur einen einzigen wichtigen Wunsch, eine Bitte an das Leben.
Irgendwann möchte ich das wir miteinander soweit sind, dass wir mitten im Sturm auf einem Bein uns gegenüberstehen, die Fingerspitzen aneinanderlegen und lachend sicher stehen können."

Sein Schritt, immer ein wenig weiter als der ihre, war ihr ein Stück voraus, und er hatte von ihrem Gemurmel nichts verstanden.
Vielleicht hätte er ihrem Wunsch sonst zugestimmt.



Sie müssen diese Wünsche aufgeben können,
oder sie ganz und richtig wünschen.
Wenn Sie einmal so zu bitten vermögen,
dass Sie der Erfüllung in sich ganz gewiss sind,
dann ist auch die Erfüllung da.
Hermann Hesse

Keine Kommentare: