Sonntag, 31. Oktober 2010

Kellerkind


Dann hol doch bitte ein Glas Kirschen aus dem Keller.“
In dem Moment überlegt sie bereits ob sie sich nicht anders entscheiden könnte. Mandarinen vielleicht, die stehen meistens im Schrank. Aber es müssen Kirschen sein. Sie will die saure Süße, den leichten Widerstand gegen den Biss, wenn einem danach der Saft in die Kehle läuft. Das rote auf den Lippen, wie gemalt, manchmal auch einen fingerbreit in den Ecken verschmiert, wie zu dick aufgetragener Lippenstift.
Sie nimmt den Schlüssel vom Haken, den mit dem roten Anhänger und der gleichmäßigen Kellerschrift. Blau ist für den Dachboden, als wenn Himmel und Hölle Farben hätten.
Im Treppenhaus, das automatische Licht. Wenn sie jetzt rennt, dann schafft sie es runter und rauf, bevor es wieder dunkel wird, aber nicht in den Keller, da müsste sie warten.
Ihr fehlt die Zeit, nachdem sie jetzt schon zu lange nachgedacht hat.
Zwischen Türen und Fenster wird sie schneller, lässt sich an einer Hand und einer Fußspitze um die Kurven schwingen. Dort wo der Schalter erreichbar ist wartet sie atemlos auf das bedrückende „klack“.
Sie schafft den ganzen Weg bis unten und wartet, mit der Hand auf dem Schalter, bis das Licht ausgeht.
Wenn jetzt jemand käme, auf dem gleichen Weg, ihr die Angst abnehmen würde. Sie wartet und lauscht, die Hand an der Klinke. Den kleinen Schlüssel fest in der Hand. Er hakt ein wenig, das hat er schon immer getan. Man hätte das Schloss auswechseln können, aber jeder kennt inzwischen den Trick. Leicht von unten, ein wenig nach links, dann geht es.

Was, wenn er jetzt direkt hinter der Tür auf sie lauert. Dahinter steht und atmet und durch das Holz sehen kann, die Angst in ihren Augen, zur Flucht bereit. Vielleicht wenn sie die Augen nur schließt, dann sieht er es nicht. Aber wenn sie die Augen geschlossen hat, dann kann sie nicht sehen wie er langsam auf der anderen Seite die Klinke drückt und mit seiner Krallenhand emporfährt und sie packt und hinter sich her schleift. Dahin, wo niemand sie hört.
War da nicht ein Geräusch? Die Augen weit aufgerissen, starrt sie die Klinke an Keine Bewegung, kein Atem außer ihrem, aber das Licht ist aus. Sie muss sich einfach schneller entscheiden.

Klack – sie wird jetzt diese Tür öffnen und da wird niemand sein. Sie ist sich fast sicher. Und wenn sie seine Fratze dort sieht, dann wird sie schreien und rennen.
Ihr Herz kann sie bis in die Klinke fühlen und als sie die Hand bewegt öffnet sie schon den Mund zum Schrei. Mit einem Ruck reißt sie die Tür auf und sieht in der Dunkelheit für einen Moment seine rot glühenden Augen. Er ist da und wartet, hält sie bewegungslos gebannt und legt seine ganze Macht auf sie. Sie starrt ihn an bis er sich auflöst, im Licht der Lampe über der Treppe. Die Sekunden, bis ihre suchende Hand den Schalter findet, sind jedes Mal endlos.

Zwölf Stufen nur, zwölf Stufen hinunter in sein Reich. Vielleicht wartet er ja am unteren Ende der Treppe nur darauf dass sie sich überwindet. Vielleicht will er sehen wie ihr die Angst aus dem Kragen kriecht. Eine Hand am Geländer tastet sie sich langsam Stufe für Stufe nach unten vor, das Ende fest im Blick..
Ein Geruch nach uralten Kohlen vermischt sich mit dem von feuchter Pappe.
Er ist mit einem samtgrünen Hauch von Schimmel überzogen, da ist sie sich sicher. So wie alles was zu lange hier unten verweilt.
Mit einem Sprung rettet sie sich von der letzten Stufe mit dem Rücken an die Wand.
Das schlimmste ist wenn er hinter einem ist, da weiß man nie was er vorhat.
Aber sie ist hier unten allein, bis auf seine unsichtbare Gegenwart die sie nur ahnt.

Vier Türen muss sie passieren, bis hin zur letzten. Acht Latten senkrecht, zwei quer und eine schräg. Pappe und alte Decken verbergen was dahinter lagert.
Er hat keine feste Masse, kann überall drunter und drüber und durch, wenn er will. In einem Moment ist sie noch allein und im nächsten schon haucht er sie an.
Sie bleibt mit dem Rücken an der Wand, schiebt sich seitwärts ans Ziel.
Zwei Schritte muss sie sich vorwärts bewegen, zur Tür mit der blauen Pappe dahinter.
Ein kleines Notfallgebet bevor sie sich aus der Deckung löst.
Herr Jesu gebt fein acht, ich hab Euch etwas mitgebracht.“ Das erste was ihr einfällt.

Wenn sie jetzt an der Wand bleiben würde, dann könnte sie weitergehen und an den Wänden im Fahrradkeller entlang. Ohne Hindernis würde sie dann auch zum Ziel kommen. Aber der Fahrradkeller ist ein großes dunkles Loch mit einem Extralicht.
Bestimmt ist er nicht da, irgendwo in einem anderen Keller beschäftigt, mit einem anderen Opfer. Bestimmt hat er gerade die doofe Sonja erwischt, die hat es nicht anders verdient.
Zwei Schritte vorwärts, den Schlüssel ins Schloss, von unten, nach links. Es will nicht gelingen. Bestimmt war er nachts heimlich oben in der Wohnung und hat die Schlüssel vertauscht. Sie spürt ihn direkt hinter sich, zieht den Kopf zwischen die Schultern und den Riegel des Schlosses aus der Öse nach oben. Die Tür schwingt auf, Holzregale, Farbeimer mit Resten und der alte Stuhl den niemand mehr braucht.
Apfel- und Fliederbeersaft, Erdbeermarmelade, Mirabellenkompott, Schattenmorellen. Das sind die Kirschen. Ohne Stein sehen sie aus wie abgetrennte zerdrückte Kinderzehen. Das Glas wiegt schwer in der Kinderhand, trotzdem wird sie gleich bis zur Treppe laufen und immer zwei Stufen auf einmal nehmen, ohne sich umzusehen. Sie will ihm und seinem Reich nur noch entkommen.
Das Schloss zugedrückt, jemand rührt sich im Treppenhaus.
Schon wieder mal das Licht angelassen“, den Rest der Tirade versteht sie nicht mehr. Das Licht geht in dem Moment aus als die Tür oben zuschlägt. Sie hat in der Dunkelheit noch ihren Fluchtweg im Blick und sieht an dessen Ende seine leuchtenden Augen warten. Jetzt sind sie hier unten allein.


Hände und Füße mit einer Kette verbunden, deren Ende nur wenig Raum lässt.
Wenn sie sich bewegt quietscht der metallenen Bettrahmen unter der muffigen Matratze. Aber das hört sie nicht, man hat ihr Sehen und Hören genommen.
Sie ahnt verschreckt eine diffuse Gegenwart und atmet schneller.
Beine und Arme hat sie dicht an den Körper gezogen, so bietet sie weniger Angriffsfläche, entgeht vielleicht der Entdeckung. Sie vermutet Dunkelheit im Raum, weil sie selbst nicht sieht.
Etwas ist in der Nähe, ihre Haut spürt den Lufthauch einer Bewegung. Die Zeit ist ihr längst verloren gegangen. Als sie das letzte Mal eingeschlafen war hat eine plötzliche Erschütterung des Bettes sie aus dem Schlaf gerissen und sie hastig atmend zurück gelassen. Sie hat geträumt, von endlos zähen Schritten, wie gegen eine Wand aus Zellophan, die einem den Atem nimmt.
Sie muss sich ihren Ängsten stellen, dem Kellermann aus Kindertagen begegnen.

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“
Niemand!“
Und wenn er kommt?“
Dann laufen wir.“
Aber wie kann man laufen wenn einer in der Dunkelheit auf dem einzigen Fluchtweg wartet oder eine Kette einen an der Flucht hindert. Sie kann nicht laufen, nur warten dass es vorbei geht. Er ist da, wie er immer da war, all die Jahre, in jeder Dunkelheit.
Eine Hand schiebt sich drängend zwischen Knie und Hals, umschließt ihre Kehle und drückt den Kopf gegen die Wand. Wenn sie jetzt aushält wird sie gleich seinen wartenden roten Augen in der Dunkelheit begegnen. Und dieses Mal wird sie nicht laufen, sie wird einfach durch ihn hindurch gehen.

(SZ 2010)

Stille

Sie sitzt vornübergebeugt, stützt das Gesicht in die Hände und sieht zu, wie die schwarze Tinte Tropfen für Tropfen vor ihren Augen verschwimmt.
Wenn die Sprenkel auftreffen machen sie ein kleines Geräusch, wässern sich ein ins Blatt und zerfasern nach einer Weile an den Rändern zu einem Blauton.
Zuerst überlässt sie das Zerfließen dem Zufall, dann wäscht sie Wort für Wort aus dem Geschriebenen um es erträglicher zu machen.
Heraufbeschworene Erinnerungen zerfließen mit niedergekämpften Gefühlen, alles wird eins.
Sie hatte geschrieben was sie nie schreiben wollte und löscht es jetzt Träne für Träne wieder aus, bevor es gelesen werden kann.
Vielleicht ist damit das unfassbare zu verhindern.
Am Morgen wird sie versuchen das gewellte Blatt glatt zu streichen und die Worte wieder zu entziffern. Sie könnte versuchen sie nachzuschreiben um sie wieder sichtbar zu machen über all den Tränen, die nichts ändern und nichts fort- oder reinwaschen.
Sie wird damit leben müssen, wie mit einem Schuldeingeständnis und wird nie wissen, ob es nicht vielleicht doch ganz anders gekommen wäre.
Selbst wenn sie dieses Blatt zerknüllt bleiben die gedachten Gedanken unvernichtbar.
Und auch wenn sie sich wieder und wieder hinsetzt und schreibt und weint und schreibt und weint. Es bleiben die Worte, die Gedanken, der Sinn, immer gleich.
Eines Tages wird sie es trotz der Tränen aufschreiben müssen und weiterreichen,
damit ihre Tränen auf dem Papier nicht die einzigen bleiben.

Montag, 25. Oktober 2010

Fingerübungen


Er spricht ohne sie anzusehen, nichts von Belang. Redet einfach nur um des Redens willen, als würde er sich damit selbst seiner Anwesenheit in diesem Raum, im Jetzt, in der Zweisamkeit versichern. Wer zu zweit ist hat einen Grund zum Reden, egal was er sagt.
Im Alleinsein wirkt es oft lächerlich, egal wie wichtig und gehaltvoll die eigenen Worte klingen. Aber es merkt ja niemand wie lächerlich man sich dabei macht. Nur bei den wenigen die über die Jahre immer lauter werden um damit die Einsamkeit im Inneren zu übertönen. Man hört sie durch Wände und Türen, wie sie seufzen, stöhnen, schimpfen und betont laut husten. Ein morgendlicher Husten der klingt als würden sie ersticken wenn nicht sofort jemand käme, mit dem sie die ganze schleimige Verzweiflung der Nacht nach oben würgen und in einem gelben Klumpen ausspeien.

Sie sieht ihn von der Seite an, er sitzt in einem 90 Grad Winkel zu ihr, wie genau berechnet. Seine Wange, sein Kiefer, seine Lippen bewegen sich. Sie hört seine Stimme, aber weder den Klang noch die Worte, kann keinen Sinn in die Bewegungen bringen. Wie gesagt, seine Worte sind ohne Belang im Moment.
Er beugt sich vor zum Tisch, greift in die Schale mit den Süßigkeiten und schiebt sich etwas davon in den Mund, kaut in mahlenden Bewegungen, spricht einen Augenblick später weiter. Sie stellt sich vor wie seine Worte jetzt klingen, begleitet von leisem Schmatzen und gedämpft durch den halb zerkauten Inhalt in seinem Mund.

Langsam entfernt er sich von ihr. Das Bild von ihm vor ihren Augen wird zunehmend kleiner, als würden sie auseinanderdriften wie Eisschollen nach dem kalben eines Gletschers. Nur das Getöse fehlt, wenn das Eis abreißt und ins Meer stürzt.
Er soll bleiben, sich nicht entfernen. Keine unüberwindbare Schlucht soll sich zwischen ihnen bilden, der Faden der sie aneinander bindet nicht abreißen.
In ihre Gedanken schrillt das Freizeichen eines Telefons und die gefühllose Frauenstimme, die unbewegt verkündet dass die Verbindung unterbrochen wurde.
Ob die Frau sich jemals Gedanken gemacht hat in welche Gespräche sie ihren Satz hineinwirft?
Vielleicht war es der letzte mögliche Anruf, bevor ein Sturm die Leitungen zerstört, oder die letzte Bewegung eines Sterbenden und seine letzten Worte, die letzten Worte in einer Feuersbrunst oder anderen Katastrophen.
Holen die Leute bei Flugzeugabstürzen nicht kollektiv ihre Mobils hervor um, trotz Verbot, ihre Nächsten über das Bevorstehende zu informieren, sich zu verabschieden.
Und am anderen Ende der Welt fangen die Angerufenen an zu beten, zu bitten, zu betteln. Drei Worte die sich ähneln und nur bedingt im Zusammenhang stehen.
Sie will keines von all dem, will nur verhindern dass sie die Entfernung aushalten muss. Es fühlt sich an wie ein Untergang, aber wie kann man SOS funken wenn es gerade nur um eine Seele geht, weil der andere nichts davon fühlt, weil er es nicht wahrnimmt.

Sie hört ihn nicht, vielleicht kann sie die Entfernung verhindern wenn sie nicht hinsieht, wenn sie verschwindet statt seiner. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, presst die Fäuste wie ein Kind gegen die Augen. Dahinter bilden sich kreisende rote und weiße Punkte die lautlos in ihrem Kopf surren.
Dass er sie ansieht sieht sie nicht. Sie ist nicht mehr da.

Was tust du da?“ Durch das Surren hört sie seine Stimme, sein Gesicht und die Worte sind ihr zugewandt.
Ich bin nicht mehr da.Gegangen bevor du gehst.“
Zwischen den gleißenden Punkten hinter den Fäusten erscheint ihr das Bild eines glühenden Kraters, an dessen Rand sie steht und mit der Fußspitze ein viersilbiges Wort in die Asche scharrt.

Er denkt kurz darüber nach ihr die Hand über Mund und Nase zu legen um die fehlende Nähe wieder herzustellen. Sie wird dadurch nicht umhin kommen die Hände von den Augen zu nehmen, damit er sieht wie nah sie ihm doch ist. Egal wie weit sie sich von ihm entfernt, das ist der Ort an dem sie für ihn immer wieder in greifbare Nähe rückt.
Seine Hand verharrt in der Luft in der Mitte zwischen ihnen. Sie wird Gründe haben, denkt er und lässt sie wieder sinken. Vermutlich möchte sie dass er ihre Gründe kennt oder zumindest erahnt, aber er weiß ja nicht einmal wie es sich anfühlen würde, wenn er nicht mehr da wäre. Wie soll er da wissen wie es wäre wenn sie nicht mehr da wäre.

Ihr stockt die Frage, was wäre wenn, als Unmöglichkeit in der Kehle, weil sie sich vor den Möglichkeiten seiner Antwort scheut.
Sie wird die Antwort auflösen, wie sich die Punkte vor ihren Augen nach einer Weile auflösen werden, wenn sie die Fäuste wieder senkt und langsam vom Rand des glühenden Kraters zurücktritt.



Sonntag, 24. Oktober 2010

schlucken


Seit dem Morgen saß sie hier am Tisch, dessen Hässlichkeit das zu kleine Stück Stoff nur notdürftig bedeckte.
Auf dem Kunststoffbrett mit den unzähligen Schnitten fremder Messer lag die Graubrotscheibe und rollte sich langsam trocknend an den Rändern auf.
Der Kaffee stand seit Stunden in der Glaskanne auf der Warmhalteplatte und hatte einen herb-bitteren Geschmack, den sie mit reichlich Milch verdünnte.

Sie hatte in der Firma angerufen, irgendetwas von Hexenschuss erzählt.
Ja, morgen wäre sie wieder da, bestimmt. Und nein, das hätte sie nicht öfter, zum ersten Mal.
Als wenn ihr nicht bewusst wäre, wie blöd es war in den ersten Wochen gleich krank zu werden. Aber sie wollte nur diesen einen Tag, einmal durchatmen, niemanden sehen, nicht funktionieren müssen.

Ein paar Mal war sie mit dem Kaffee in der Hand durch die Wohnung gewandert, die sie gern ihr zuhause genannt hätte.
So weit war sie noch nicht, dafür war die Mischung aus ihr völlig fremden Gerüchen noch zu aufdringlich.
Außer der weißen Farbe war nichts neu hier, nichts ihr eigen.
Lieber hätte sie sich ihr neues Leben neu eingerichtet, nur blieb ihr dafür nicht genug Zeit.
Hätte sie ihre Ansprüche bei der Behörde geltend gemacht wäre es sicher um einiges leichter gewesen, aber sie wollte nichts erklären, sich nicht schon wieder klein gemacht fühlen.
Dafür steckte ihr das Mantra der Wertlosigkeit - kannst nichts, hast nichts, bist nichts - noch zu sehr in den Knochen.
Jetzt ging es ihr darum zu beweisen dass dem nicht so war.

Das sie nichts hatte war noch ziemlich offensichtlich, nur das nötigste aus dem Gebrauchtmöbelladen.
Bett, Schrank, Tisch, Stuhl, zwei Sessel und ein Regal.
Die Sessel waren ein Paar gewesen und sie hatte es nicht fertig gebracht sie auseinander zu reißen, wie sie in ihrem leicht abgeschabten Charme dort nebeneinander gestanden hatten.
Ein paar Dinge für den alltäglichen Gebrauch, unpaariges Geschirr, mit abgestoßenen Kanten, an denen sie nicht Schuld war.

Hinüber gerettet hatte sie nicht viel, außer Kleidung, ein paar alte Bücher und den Garderobenständer an dem sie seit ihrer Jugend hing, über den er immer nur geflucht hatte, weil er so kibbelig stand.
Bei den Fotos hatte sie noch überlegt, aber dann entschieden, dass sie die Erinnerung nicht wert waren, sie die wohl sogar eher meiden wollte für die Zukunft.
Beim durchblättern der Alben erst war ihr aufgefallen, das sie kaum einmal gelächelt hatte in all den Jahren und damit ihren Entschluss noch bekräftigt.

Sie hatte sich gewundert woher sie den Mut zusammengeklaubt hatte.
Überhaupt in den Stellenanzeigen zu stöbern, als würde sie tatsächlich etwas suchen, wo sie doch nichts konnte.
Aber Küchenhilfe, das ging wohl, kochen konnte sie ja.
Die heimliche Freude über das Vorstellungsgespräch und das Bangen um die Zusage.
Einen Monat halbtags, zur Einarbeitung, kam ihr sehr gelegen.
Sie verließ das Haus kurz nach ihm und wenn sie mittags wieder daheim war ließ sie die Kleidung mit dem Küchenduft im Keller.
Er kam ihr nicht drauf und sie hatte Geld genug für die erste Miete.
Vier Nächte auf der Luftmatratze aus dem Billigladen, dann hatte sie Zeit zum Möbelkauf.

Sie hatte ihm am letzten Abend gesagt dass sie gehen würde, er hatte ihr ins Gesicht gelacht.
"Du doch nicht, du bist doch nichts ohne mich."
Trotzdem hatte sie am nächsten Morgen ihre Sachen in zwei Koffern verstaut und war mit der S-Bahn umgezogen, froh einen eigenen Schlüssel zu haben.
Ja, sie hatte wirklich nicht viel.

Die Bücher hatte sie in das Regal sortiert und nach und nach wieder angefangen sie noch einmal zu lesen.
Er hielt nichts von Büchern und schon gar nicht, wenn Frauen sie lasen, die kämen dadurch nur auf dumme Gedanken.
Und jetzt beim Lesen kamen all die Träume wieder, die sie damals hatte.
Die Länder, die sie all die Jahre vermisst hatte.
Und die Menschen in den Geschichten, die ihr damals beim Lesen alle so nah gewesen waren.
Ihre Gedanken spielten mit den verschnörkelten Sätzen, die sich umeinander schraubten. Sogar die Sprache hatte er ihr genommen.
Einmal hatte sie angefangen heimlich ein Tagebuch zu schreiben, warf es aber nach den ersten Seiten in einen namenlosen Müllcontainer in der Stadt, aus Angst er würde es entdecken und ihre Gedanken lesen.

Ein alter, an den Rändern abgeschabter Gedichtband hatte ein Eselsohr an einer Stelle mit einem Gedicht von Kästner.
Wann sie dieses Eselsohr da hineingeknickt hatte war ihr nicht bewusst.

Da kam ihnen ihre Liebe abhanden,
wie anderen Leuten ein Stock oder Hut

Die beiden Zeilen hatte sie dünn mit Bleistift unterstrichen. Die Striche waren inzwischen fast gänzlich verblasst, wie ihre Hoffnung irgendwann verblasst war.
Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie das damals war mit der Liebe zwischen ihnen und ob oder wann sie überhaupt abhanden gekommen war.
Sie hatte sich nicht davon geschlichen, irgendwie hatte sie sich in ihre Atome gespalten und sich leise verflüchtigt, das bisschen was da jemals gewesen war.
Nicht einmal für ihr "Ja" fand sie mehr einen Grund.
Auch für ihr aushalten all die Jahre nicht. Sie hatte sich nichts mehr zugetraut irgendwann, glaubte ihm seine vernichtenden Sätze.

Ein Traum hatte an ihr gerüttelt. Ein Traum in dem sie wuchs und wuchs und am Ende viel größer war als er. Einen einzigen Satz sagte sie zu ihm:
"Und was bist du ohne mich?" Dann wachte sie auf.

Tagelang war ihr dieses Bild nicht aus dem Kopf gegangen und als sie die ersten Nächte allein in ihrer Wohnung verbrachte dachte sie wieder daran.
Sie vermisste ihn nicht und wunderte sich nicht einmal darüber.
Aber es war auch nicht so dass sie ihre Freiheit genoss, eher die Ruhe.
Allein war sie schon viele Jahre gewesen.
Nur befreit war sie deshalb nicht.

Wirklich wichtig war sie ihm nicht, aber trotzdem wachte er mit Argusaugen über sie. Er fürchtete nicht das sie ging, sondern lediglich das sie sich seiner Macht entzog, er nichts mehr hätte zum kleinhalten.

Sie kramte in ihrer Erinnerung nach den "guten Zeiten" und fand nur wenige Momente die diese Bezeichnung verdienten. Die lagen ganz am Anfang, als Freunde und Bekannte noch eine Chance hatten in ihrem Leben, bis sie sich dann schlussendlich doch alle in seinen Augen als untauglich erwiesen.
Die taugten alle nichts, waren nichts, hatten nichts, konnten nichts.
Mehr als einmal hatte er sie wutentbrannt nach einer Feier in den alten Ford befohlen, weil wieder einmal einer von denen einen Streit angefangen hatte, nur weil der Recht haben wollte. Die wussten ja immer alles besser als er.
Aber was wussten die schon, nichts wussten die.

Sie hatte immer nur still daneben gesessen. Und wenn er sie aufgefordert hatte "Nun sag doch auch mal was," dann hatte sie mit den Schultern gezuckt und wenn sie eine Weile später Luft holte um etwas zu sagen fiel er ihr ins Wort. "Ach, was weißt du denn schon."
Im Grunde war sie froh, als ihr das endlich erspart blieb.

Wenn er abends nach hause kam, sich an den gedeckten Tisch setzte, dann erklärte er ihr die Welt, so wie sie sie zu sehen hätte, alles andere wäre sowieso Unsinn, nicht der Rede wert.

Versuchte sie anderer Meinung zu sein, blockte er sie mit einem "Ach..." ab, bis sie schweigend aufgab.
Ihr Nicken deutete er später ganz selbstverständlich als Zustimmung, ohne zu bemerken das sie das Zuhören schon längst aufgegeben hatte.

Mit einer Hand knibbelte sie die trockenen Kanten der Käsescheiben ab und steckte sie sich in den Mund. Wenn sie an ihn dachte verging ihr der Appetit.
Sie suchte nach Gefühlen für ihn, brachte aber nicht einmal eine handvoll Mitleid zusammen.
Die Erinnerungen würden verblassen und mit ihnen das Bild von ihm.
Wahrscheinlich würde er ihre Geschichte und auch das Ende ganz anders erzählen, aber das war nicht mehr wichtig.

Irgendwann würde sie die Dämonen entsorgen, wie jetzt die vertrocknete Scheibe Brot und den letzten Schluck von dem bitteren Kaffee.


Juli 2009 (mullewapp)

Samstag, 23. Oktober 2010

drunter und drüber

Ich wollte heute Nacht etwas schreiben, einen Text zur Musik, einen Text wie Musik.
Aber solche Texte schreiben sich nicht in finsteren Vollmondnächten, in denen der Sturm die Wolken zerfetzt, ohne Erfolg. Kein Licht dringt durch die düstere Decke, alles hüllt sich in schwarz.
Auch ich und trete hinaus auf die nassen Straßen, Laub klebt mir an den Beinen, der Wind reißt es fort. Ich stelle mir vor es wäre Haut, meine Haut. So geschält wäre ich echt, ich. Gehen, laufen, rennen. Den Takt meiner Schritte höre ich an Häuserwänden abprallen und stelle mir vor, einer wacht auf, tritt ans Fenster und sieht mich.
Er sieht auf mich herab, zwangsläufig.
Sieht wie ich hier neben der Lampe stehe und an der nassen Zigarette sauge, den Rauch wie einen Feuerstrahl ausstoße, als würde ich brennen in diesem Sturm.
Etwas brennt in mir, lichterloh.

Man sollte den Schmerz beizeiten in kleine Stücke zerhacken, bevor er sich zusammenballt in einem und wie die Feuersbrunst einer Bombennacht in einem wühlt.
Er frisst sich zusammen aus Worten und Gesten. Frisst sich daran satt und wächst bis er unaushaltbar groß werden kann. Zuerst greift er mit zierlichen Fingern mal hier ein Wort auf und dort einen Satz und dann stopft er irgendwann alles, dessen er hörhaft werden kann, mit vollen Händen in sich hinein.
Man füttert ihn mit schmeichlerisch, hoffnungsvollen Gedanken. Und er säuselt etwas wie, alles wird gut.
Tag für Tag bereitet er sich vor, auf die Zeit des Darbens, wenn er nur noch von Hass und Verachtung genährt wird, denn nur damit ist er zu besiegen.
Er ist so fett und mächtig, dass man denken mag er wäre nie kleiner zu kriegen. Bis man ihn eines Tages den Hunger lehrt, hört wie er jammert und letztlich stirbt und mit ihm ein Rest an Gefühlen, die Neige, der letzte Schluck, den man sich noch einmal bitter durch die Kehle rinnen lässt.

Wer fühlen will muss leiden. Das kann auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. So einfach tritt das Wollen nicht mit einer letzten Verbeugung ab, wenn der Wille in diesem Stück die Regie nicht führt.
Das Drehbuch liegt vor mir in der Pfütze, der Sturm zerrt an den Seiten. Blatt für Blatt passiert Revue, vor und zurück wenn der Wind sich dreht.
Bevor ich die letzte Szene gelesen habe schiebt eine Böe die Seiten durch den Rinnstein vor sich her und fort. Ich will nicht wissen wie es ausgeht, noch nicht.
Noch ist der Schmerz nicht satt, das Leid nicht ausgelitten. Nutzlose Tränen im Regen, fad und ohne Geschmack. Nicht wie die, mit denen man mit einer salzigen Kruste auf der Haut aus Träumen erwacht.
Eine Motte prallt verlockt gegen das Lampenglas und verlischt ihr Leben in der Nässe zu meinen Füßen. Im rechten Winkel zuckt der intakte Flügel noch ein paar Mal, dann faltet sie sich auf und treibt davon ohne Chance auf ein Schmetterlingsdasein.
Meine Hände pressen sich auf meinen Leib, ich will sie dort halten. Sie sollen wild und wirrend flattern bei jedem Gedanken. Ich ziehe meine Kreise enger und weiter.
Ich ziehe nicht weiter, nicht einen einzigen Schritt mehr. Will meinen Schmerz füttern und ihn horten.
Ich sehe hinauf zu dem Fenster und erkenne wer dort steht und auf mich herabsieht.
Der Himmel reißt auf, für einen kurzen Moment macht er mich sehend nur erkennen kann ich nichts. Etwas verschleiert mehr als nur meinen Blick.
Selbst wenn ich jetzt gehen wollte, ich könnte nicht, nicht einen einzigen Schritt.
Ich habe Wurzeln geschlagen.


Freitag, 15. Oktober 2010

Erntezeit



Sie hatte sich aufgehübscht und dann ins Auto gesetzt,
nach Wochen mal wieder ein Treffen, nur zum Spiel,
den Hunger befriedigen, die Lust.
Niemand wusste davon.
Ein heißer Julitag,
nach 4 Stunden Fahrt kam sie durstend bei ihm an.
Sie mochte sein Haus zwischen den Feldern.
Es gab Wein und Salat
und dann den obligatorischen Anfang
"Zieh dich aus!"
Drei Tage Zeit, aber nichts zu verschenken.

Geknebelt, die Hände gebunden führte er sie hinaus.
"Steig in den Wagen!"
Er fuhr bis sie die Orientierung verlor.
Feldwege und die Geräusche eines parkenden Autos.
"Die Schuhe auch!"
Spitze Steine unter den Füßen, spüren.
Sich führen lassen, müssen.
Berührungen auf der Haut, pflanzliches Peitschen.
Noch warme Erde, sandig unter den nackten Sohlen.
Schabendes Rascheln am ganzen Körper,
Getier in den Haaren und auf der Haut.
Nur ihrer beider keuchender Atem ist zu hören.
"Stop!"
und dann etwas raues im Rücken,
kühlwarm und hart, Beton, ein Mast.
Mit Seilen und Stangen, lässt er sie dort erstarren.
"Vertrauen?"
Sie nickt, selbstverständlich.

Sicherheit, er legt das eingeschaltete Handy neben sie auf den Boden,
so kann er hören ob alles safe ist.
Voller Empfang und beide Akkus geladen,
das hat er überprüft
und er wohnt ja nicht weit, zwei Minuten.

Am Auto dreht er sich noch einmal um, nein, sie ist von hier nicht zu sehen,
der Mais ist schon hoch in diesem Jahr.
Das Display erleuchtet, er kann ihr keuchen hören.

Zigaretten hat er vergessen,
doch noch einmal schnell zum Automaten, jetzt.
In einer Stunde holt er sie wieder ab,
das wird sie wohl aushalten, dann wird es kühl.

Die Musik etwas lauter,
an den Bahnschranken hört er den ICE nicht,
der fährt hier 270, und die Anlage ist mal wieder defekt.
Das Handy landet im Graben, der Akku hält noch sieben Stunden.
Dann erlischt das Display.

Die Tage sind heiß, sie spürt Durst
und am nächsten Tag Wahn und Verwirrung.
Vertrauen, aber jetzt würde sie schreien wollen um Hilfe.
Wenn nur die Fliegen nicht wären
und die Seile.
Am dritten Tag gibt sie auf.

5.30 Uhr, Weckerrasseln, Maisernte, jeden Tag 18 Stunden auf dem Häcksler.
Heute muss er da hin, wo das Haus von dem Typen steht den im Juli der ICE erwischt hat.
Um 6 Uhr steht er an der Ackereinfahrt, bis zum Frühstück würden sie wohl die Hälfte schaffen, dass ist dort wo der Betonpfeiler steht.

(SZ Aug. 2008 und es passt grad so gut, jetzt wo die Maisernte in vollem Gange ist )






Sonntag, 10. Oktober 2010

Herbst - zeitlos

alles schwindet, zieht sich zurück,
die Vögel auf langen Wegen
hoffnungsvolles Sommergrün
lässt sich willenlos fallen
aufgebrochene Erde
durchzogen von sterbenden Resten
was klein war ist groß
gewachsen im Zeitenlauf
stille Reserven angelegt
für das was nun folgen wird

ich mag mich nicht
vorbereiten auf die Kälte
will in den letzten Sonnenstrahlen
alles aufwühlen
auch das Laub
und es verschwenderisch
um mich werfen
dass es dir hängenbleibt
in den Haaren
und im Herzen auch

kein Blatt im Wind
das fällt im Sturm
eine Wurzel will ich sein
die sich immer tiefer gräbt
kein Keimling
ein großer, starker Baum
irgendwo am Stamm versteckt
hat einer ein Herz geschnitzt
das bleibt



Schiffbruch – Assoziationen (open water)


Wir sitzen im selben Boot.
Wer hat uns dort hinein gesetzt?
-Wir, oder etwas anderes, etwas das größer ist, mächtiger, das lenkt und bestimmt was sein soll und was nicht?
--Und was soll dann sein am Ende und was nicht?
---Wenn nicht, was war dann der Sinn?
----Mit weit geöffneten Sinnen und Augen abzusaufen?

Wir sitzen im selben Boot. Haben uns auf eine Anregung von außen dort selbst aufeinander eingelassen. Zumindest hatten wir, als wir das Boot enterten noch so viel Entscheidungsfreiraum, der uns später abhanden kommen sollte.
Schiffbruch war nur sehr weit entfernt eine Ursache, obwohl, wenn man es ganz genau nimmt?
Hatten wir dann nicht doch beide eine Art von Schiffbruch erlitten, jeder auf seine Art und Weise, sich mehr oder weniger als Schiffbrüchiger fühlend?
So gesehen, habe ich in dem Boot schon gesessen und du bist zugestiegen. Ich bin ein bisschen beiseite gerückt, ohne zu überprüfen wie weit die Vorräte zum Überleben in dieser Situation noch ausreichen könnten.
Andere, die auch um das Boot schwammen habe ich abgewiesen, wieder zurück ins Wasser gestoßen, weil sie mir nicht wert erschienen sie mit ins Boot zu nehmen.
Zu offensichtlich die Gier in ihren Augen, verbunden mit dem Gedanken, wenn es hart auf hart gehen würde, dann würden sie mich über Bord stoßen, ohne auch nur einmal wimpernzuckend darüber nachzudenken.

Du schwammst eine Weile ruhig nebenher, ganz ungierig. Fragtest nach dem Ziel und wir stellten fest, dass wir die selbe Richtung hatten. Ich ruderte etwas langsamer, ließ mich schließlich nur noch treiben und wir wollten uns nicht aus den Augen verlieren. Das war Grund genug dich einzuladen zu mir ins Boot zu steigen.
Ich rückte ein wenig beiseite, ließ dich neben mir sitzen und wir kümmerten uns nicht mehr um Ziele, trieben auf den Wellen dahin.
Lehnten uns unterm nächtlichen Himmel zurück und pflückten uns gegenseitig die Sterne. Wir hielten sie uns vor Augen und erzählten einander was sie uns bedeuten.
Zwischen uns ein kleiner Beutel, in den wir all die Sterne legten die uns gefielen. Er füllte sich reichlich und funkelte immer verheißungsvoller.
Weder die Zeit, noch Hunger oder Durst spielten eine wesentliche Rolle. In diesem Boot waren nur wir beide wichtig.
Manchmal, wenn Wind aufkam, dann dachten wir an die Folgen, oder über die Folgen nach. Aber wir konnten ja schwimmen, jederzeit aussteigen.
(Höhnisches Gelächter aus dem Off: Ja, wie die Süchtigen! Die behaupten ja auch jederzeit aussteigen zu können, solange sie es nicht versucht haben, um damit ihre Sucht zu verharmlosen.)
Wir haben niemals darüber nachgedacht den Proviant gerecht in zwei Teile aufzuteilen. Vertrauten einander, dass jeder nur soviel nehmen würde, wie es zum Überleben nötig wäre. Wir waren tagelang sparsam, um uns dann, an dem wenigen das wir hatten, der maßlosen Völlerei hinzugeben. Eine der Todsünden, die sich guter Gesellschaft erfreute.
(Die rauchige Stimme der Zarah Leander meldet sich aus dem Off und singt einen bekannten Refrain.)

Eine ganze Weile blieben wir unbestimmt in unseren Äußerungen, bis wir sie schließlich aufeinander bezogen. Das berühmte „Was wäre wenn“ - Spiel, festgemacht an konkreten Beispielen aus dem Alltag, der uns weit entfernt schien, den wir aber trotzdem in unseren Mittelpunkt rückten, als wären wir dort und nicht in diesem Boot, weit draußen im Meer der Möglichkeiten.
Was wäre wenn:
ein Sturm aufkommt?
uns der Proviant ausgeht?
Land in Sicht kommt?
das Boot zu sinken droht?

Würden wir einen Sturm überstehen, bei dem die Wellen ins Boot schlagen und es kurz vor dem Kentern ist? Wenn wir gegen den Wind anschreien müssten, miteinander um das Boot kämpfen müssten. Könnten wir uns aufeinander verlassen und würden dem Urteil und der Führung des anderen vertrauen? Könnten wir darauf vertrauen, dass der Sturm ein Ende haben wird und wir danach wieder in ruhigen Gewässern treiben, ganz egal ob wir uns dem Ziel genähert haben oder uns weiter von ihm entfernt haben? Wären wir in der Lage gefährliche Riffe und Eisberge rechtzeitig zu erkennen und sie trotz des Sturmes zu umschiffen, ihnen auszuweichen?
Die Antwort fanden wir auf einer Treppe, die gefährlich nahe an einem Riff lag.

Die Frage mit dem Proviant ließ sich nur schwer in den Mittelpunkt zerren, weil sie uns viel zu hypothetisch erschien, als dass sie wahrscheinlich wäre.
In wieviele letzte kleine Bissen und Schlucke würden wir die Reste aufteilen?
Bestünde die Gefahr dass wir einander übervorteilen würden? Würde sich Misstrauen zwischen uns schieben können, Neid, Angst, Wachsamkeit?
Oder würden wir nicht doch viel eher füreinander verzichten und der eine dem anderen mehr überlassen wollen als er für sich beanspruchte? Und würden wir das zulassen können oder uns dagegen verwehren und lieber miteinander auf die Reste verzichten als dem anderen gegenüber im Vorteil zu sein?
Wieviel Hunger und Durst könnten wir füreinander ertragen?
Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage ist, dass es keine Antwort darauf gibt, bevor man nicht in der Situation ist.

Was würden wir tun, wenn tatsächlich Land in Sicht käme?
Würden wir anfangen hektisch zu rudern um endlich an Land gehen zu können?
Würden wir uns weiter treiben lassen, um zu sehen ob es uns auch tatsächlich dorthin treibt?
Oder würden wir anfangen zurück zu rudern, um dem nicht ins Auge blicken zu müssen, was uns außerhalb des Bootes erwartet, weil wir es eigentlich gar nicht verlassen wollen?
Und was wäre wenn wir uns nicht über die Richtung einigen könnten, wenn der eine an Land will und der andere das Boot gar nicht verlassen will?
Könnte der eine sich weiter treiben lassen oder zurückrudern, wenn der andere an Land schwimmt, im Vertrauen darauf dass der andere folgen wird?
Oder gehen wir einfach eine Weile vor Anker?
(Tonmeister: Hier bitte eine Einspielung sanfter Wellengeräusche.)

(Nächste Einspielung: Filmszene aus „Der Untergang der Titanic“ aus dem s/w Original von 1953. Panik an Bord, die Passagiere steigen in die Rettungsboote, Blende auf die üblichen herzzerreißenden Dramen. Aus dem Megaphon tönt knarzend der Aufruf: „Frauen und Kinder zuerst!“
Kameraschwenk- jetzt in Farbe - ein kleines Schlauchboot dümpelt auf hoher See, an Bord zwei Personen, aus unerfindlichen Gründen lässt das Boot Luft und droht in absehbarer Zeit zu sinken)
Welche Möglichkeiten bestehen?
Man beginnt gemeinsam wie verrückt zu rudern, in der irrsinnigen Hoffnung auf Rettung oder doch noch endlich auf eine Insel zu stoßen, die man eventuell schwimmend erreichen könnte.
Man lässt sich einfach weiter treiben, in der selben irrsinnigen Hoffnung.
Man wägt die Möglichkeiten des Überlebens ab, wenn nur einer an Bord bleibt.
Angesichts der Haie im Wasser fällt die Möglichkeit, abwechselnd neben dem Boot her zu schwimmen als Lösung aus.
Es bleibt also nur ein freiwilliges Opfer. Wer würde sich opfern und würde der andere dieses Opfer zulassen können?
Was für eine wahnsinnige Entscheidung?
Dabei zusehen zu müssen, wie einer ein Opfer der Haie wird, wem mag man das zumuten?
Oder würde man in letzter Sekunde ebenfalls aus dem Boot springen um den anderen doch noch zu retten, den Kampf gegen die Haie aufnehmen?
Vielleicht würde man aber auch die Entscheidung zum Schein auf den nächsten Tag verschieben und sich nachts heimlich ins Wasser gleiten lassen.
Wo bliebe dabei die Fairness und welche Last würde man dem anderen damit aufbürden?
Und sollte man vor all diesen Überlegungen nicht doch besser alle Optionen durchdenken, die man hat, um ein Sinken des Schlauchbootes zu verhindern.
Ganz sicher gibt es einen Möglichkeit das Loch abzudichten.
(Tonmeister: Hier bitte nochmals die Einspielung der Megaphonstimme
Frauen und Kinder zuerst!“, anschließend künstliches Publikumsgelächter.)


Wir sitzen im selben Boot.
Der Gedanke an fast unendliche Tiefen lässt uns schaudern.
(Abspann: Eine einsame Insel -Hollywoodkitsch-Palmenstrand-
zwei kommen Hand in Hand aus dem Wasser und gehen über den weißen Sand,
abseits treibt ein Schlauchboot aufs Meer zurück)

(Anmerkung: manchmal kann ich auch Happyends)

Edit: alternatives Ende
kurz drauf nähert sich der Insel eine Sturmfront in Orkanstärke,
gefolgt von einem Tsunami, der über die Insel rollt und sie zerstört.

Übrig bleiben nur die zerfetzten Reste des Schlauchbootes die gelegentlich irgendwo angespült werden.

Das Haus


Rostig quietscht das schwere Eisentor in den Angeln.
In guten Zeiten ließ es sich leicht weit aufstoßen und der Park dahinter war blühend und lichtdurchflutet. Der Weg sauber geharkt, ein klarer Pfad den man nur zu gehen brauchte um ans Ziel zu gelangen. Es war ein leichtes in Tagträumen zu verweilen bevor man das Haus erreichte. Verheißungsvoll lehnten Rosen am Spalier, Päonien lockten vielversprechend mit ihren aufgeplusterten Blütenköpfen und zwischen den Buchshecken lagen geführt die Umwege. Es drängte keine Eile, das Ende des Weges lag im Licht, ein wenig erhaben über allem.
Das Haus mit der schweren Tür die man nur aufzustoßen brauchte um einzutreten in all die Zimmer der Möglichkeiten. Alle Räume angefüllt mit Wärme. Große Fenster die das Licht herein ließen und durch deren Glas man den Blick weit in die Zukunft schweifen lassen konnte. Alle Türen weit geöffnet, keine Geheimnisse dahinter. Geschwungene Treppen bahnten leichtfüßige Wege von Etage zu Etage.
Jeder Ton ein heller Klang zwischen den Wänden, der seinem Echo begegnete und sich wieder zurückwarf zum Ausgangspunkt, an dem er mit einem wissenden Lächeln aufgefangen wurde.
Ein Haus zum Bleiben, zum darin leben auf lange Zeit.

Die Töne ließen als erstes die Veränderung spüren. Kein Gleichklang mehr, keine Antworten mehr auf stumm ausgesandte Rufe. Dem Leichten mischte sich ein schwermütiger Unterton bei und aus dem gemeinsamen Singsang wurde ein beständiges Brummen im Hintergrund, so als wäre es der Vorton einer Sirene die gleich Alarm geben könnte.
Wolken zogen auf, warfen Schatten in die Räume. Hinter den Scheiben versank der Blick in schweren Nebeln die sich behäbig über alles legten was dort zuvor so klar und eindeutig zu sehen war.
Die Türen fielen langsam eine nach der anderen zu, Dunkelheit machte sich breit, ließ die Stufen zu Stolperfallen werden.
Aus der Selbstverständlichkeit mit der man vorher ein Zimmer betreten hatte, wurde ein zaghaftes Anklopfen mit der Bitte um Einlass. Die Tür am Eingang immer öfter verschlossen und nur der Zug an der schweren Glocke ermöglichte den Zutritt.
Über den Park legte sich ein süßlicher Hauch von Fäulnis von den vermoderten Blüten und der Laubschicht. Niemand schnitt den Buchs und harkte die Wege, weil sich alles Sein auf die Schwere konzentrierte die im Haus Einzug gehalten hatte, bis Stille die Töne gänzlich zum verklingen brachte und das Atmen in der staubigen Luft zunehmend schwerer fiel, die einem immer öfter die Tränen in die Augen trieb.

Selbst das Eisentor trieb ein düsterer Wind so, dass es zufiel, aber nicht gänzlich ins Schloss, wo es zweifellos durch den Rost wie verschmolzen wäre und nicht mehr zu öffnen. Es brauchte Kraft es zu öffnen und gelang nur wenn man die schrillen Rosttöne überhören wollte, die einem wie eine Warnung entgegen schlugen.
Langhaarige Flechten hingen von den Bäumen und wehten sich einem ins Gesicht wenn man darunter durch ging, als wollten sie einen vom weitergehen abhalten. Das Laub legte sich schwer auf die Füße, die sich im ungeschnittenen Gestrüpp verfingen, da der Weg nicht mehr zu erkennen war. Nebel ließen jeden Atemzug wie schwere Luft erscheinen, die man keuchend im vorwärts gehen einsog.
Der Weg zum Haus nur mehr eine Ahnung die im Dunkeln lag.
Die Glocke am Eingang eisig bewegungslos festgefroren, doch irgendwo verborgen ein Schlüssel. Einzig neu war das Schild: Betreten verboten! Einsturzgefahr!
Die Tür öffnet sich gegen Widerstand, als würde sich jemand von drinnen dagegen stemmen. Nur ein schwacher Lichtschein begleitet die ersten Schritte, bevor die Tür hinter einem wieder ins Schloss fällt.

Tastend blinde Bewegungen durch Räume die einst so vertraut waren. Geräusche verschlucken sich selbst, bis auf das Wimmern hinter den geschlossenen Türen.
Pelziger Staub wirbelt bei jedem Schritt unsichtbar auf.
Einst gab es hier nur gelassene Fröhlichkeit, die jetzt einer dumpfen Angst und ihrer Sorge Raum geschaffen hat, die sich einem auf die Schulter legen.
Vor dem Öffnen jeder einzelnen Tür ist man gewappnet vor der Düsternis, die einem dahinter bitter entgegen schlagen könnte. Trotzdem muss jede Tür geöffnet werden.
Man möchte die Vorhänge herunter reißen, die Fenster weit aufstoßen, Licht und Luft in den Jahre alten Moder lassen. All das alte, das wehmütige zum Fenster hinaus werfen, Platz und Raum schaffen. Aber das ist nicht das Ziel.
Das Ziel liegt hinter einer der Türen, wo es sich in einem Zimmer in der Ecke verkrochen hat. Es wollte Raum zum Atmen und sitzt jetzt dort mit angehaltenem Atem und schweigt sich schluchzend aus.

Vor der Tür ein kurzes innehalten, überlegen ob es gilt anzuklopfen oder herein zu stürmen und entscheidet sich dann dafür durch das Holz zu sprechen.
Fragen nach dem warum auf die es keine Antwort gibt. Keine Antwort ist immer eine schlechte Begründung und langsam senkt sich die Klinke, öffnet sich die Tür.
Ein Blick auf das Gegenüber und alles quillt über, macht die Zwischenräume wärmer.
Zurückhaltung stellt sich dem Willen zum Halten wollen entgegen, zu groß der Schritt.
Stille Worte von Ecke zu Ecke, dort sitzt man gegenüber, mit dem Rücken an der Wand. Wer sich in eine Ecke zurückzieht sitzt immer mit dem Rücken an der Wand und hat keine weiteren Möglichkeiten zum Rückzug mehr, außer dem Schutzwall bleibt nur der Weg nach vorn, wenn man dort nicht verharren will. Das gibt Hoffnung, wenn nur zwei diesen Raum kennen.
Ein Wind bauscht den Stoff am Fenster, lässt Streifen aus Licht auf dem Boden tänzeln, an denen man sich entlang hangeln kann wie an einer Strickleiter, die von einem zum anderen führt.
Mit dem Licht weht ein Hauch des vergangenen Sommers ins Zimmer, treibt ein wenig um im Raum und zerrt an den Spinnweben die sich verbergend um Altes legen wollten um es dem klaren Blick zu entziehen. Ein Finger schiebt sich in eines der bauchig wehenden Netze und zupft es mit einem leisen Klang entzwei.
Der Ton ein Wunsch, dass Zimmer wieder heller werden zu lassen, Wärme einfluten zu lassen und Licht zum Sehen und gesehen werden.

Wohlig kriechend wischt der Körper eine Spur durch den Staub, die in der anderen Ecke endet und sich dort niederlässt. Eine Hand schiebt sich um die Fesseln wie ein Halt. Blicke treffen ineinander, Hand schiebt sich in Hand, Finger kriechen ineinander und halten sich bis es Zeit ist aufzustehen und wieder schutzlos in der Mitte des Raumes zu sein und von dort das Haus zu durchwandern.
Bis alle Räume wieder bis oben angefüllt sind mit Träumen. Ausgeliefert im Vertrauen darauf, dass dieses Haus wieder lichter wird, so wie es war und das Schild an der Tür überflüssig ist.
Bis aller Staub und Moder im Haus und die Fäulnis im Park wieder weichen und gefühltes Leben wieder in voller Blüte steht und die Wege wieder klarer erscheinen.








Samstag, 9. Oktober 2010

Im Inneren der Geige

Als säße man im Inneren einer Geige,
dunkel und hohl im warmen Holz
das nicht zu klingen vermag
den Körper in die Form geschmiegt
darauf wartend
dass einer den Bogen nimmt
und in langen Strichen
die leisen Töne aus einem spielt
aus dem Summen ein Lied wird
und aus dem Lied eine Symphonie
die ihren Klang über alles legt
in warmes Schwingen versetzt
niemals mit einem letzten Ton verklingt
weil sie grenzenlos und ohne Ende ist

Im Sehnen saugt das Holz
eine einzelne Träne
jede Minute schmerzt
bis zur letzten Sekunde
in der sie tonlos verhallt
und im Gefühl
ein Wehklagen aufsteigt
sich den Weg zur Kehle brennt
und als stummer Schrei
kein Herz erreicht


Montag, 4. Oktober 2010

Nachtwaertz-Blog ...Ende

Das wars bis hier mit dem Nachtwaertz – Blog.
Ein Dank an Andreas (Woschofius) dass ich dort über 2 Jahre lang immer ziemlich unbekümmert einfach alles reinsetzen konnte.
Leider hat es dort zum 1. November ein Ende für die Blogs und ich wollte mein Geschreibsel dort nicht dem Daten- Nirvana überlassen, deshalb hab ich fast alles von dort hierher verschoben.
Faulerweise meist seitenweise.
Nach und nach werde ich noch ein paar Sachen aus der SZ hierher kopieren
und ansonsten hier frei von Kopfscheren und Moderation posten.


miss you - erklärungen - einfach

Donnerstag, 19. August 2010 - 14:51 Uhr
miss you


miss you
on the ground
in the air
on the clouds
in the heaven
at the sea

miss you
in the bed
at the floor
in the kitchen
on my knees
at the ground

miss you
in the wood
between the fields
among the waves
in the hills
and everywhere

miss you
on the street
in the house
in the deepest valleys
and the highest tops
around the world

miss you
in strawbeeryfields
and cherrytrees
from sunrise til sunset
and in the dark of the night

miss you
in the cold
in the heat
so bitter and sweet

miss you
left and right
up and down
round and round
miss you
miss you
miss you


(Die richtige Lesart für diesen Text existiert nur in meinem Kopf...sorry)


Mittwoch, 28. Juli 2010 - 13:44 Uhr
einfach


es ist so einfach
ich will so
geliebt werden
wie du
lieben willst

den Worten
folgen Taten
den Taten
das Leben

ein letzter Schlag
der Befreiung
ein erster Schlag
der Verbindung

es ist so einfach
zu sein
was man ist
zu leben
was in einem ist

so einfach
zu lieben
wie man ist


Montag, 19. Juli 2010 - 12:17 Uhr
er – klärungen

erklär mir
die Sicht dieser Welt
und wie wir uns
darin finden
das aus zwei Welten
eine wird

ich will mich
in deinen Worten suhlen
mich nähern, dich halten
mich in dich graben
in jeden Gedanken
den blutroten Muskel

will dich schicken
auf eine Achterbahnreise
im Wasserglassturm
dich erobern
und deine Welt
gefühlstaumelig
kopfüber stellen
will dich

in unseren Träumen
erinnern wir uns
an das was noch
kommen wird
daran dass wir uns
jeden Tag wieder
neu verlieben können
in uns

Kirschenzeit - Einkehr - flüchtig

Freitag, 16. Juli 2010 - 16:11 Uhr
Kirschenzeit


Das Ziel kenn ich nicht
auch nicht den Sinn
verlier mich in losen
Gedankenspinnfäden
und seh dir zu
wie du dich lässig
in mein Leben lehnst
die Daumen locker
in meine Herzschlaufen hängst
und Schlinge um Schlinge
dich in mich knüpfst


***

selbstverständlich
ganz ohne Willen
schlägst du im Takt
mit Worten nach mir
greifst an mich
wo ich greifbar bin
und dringst dahin vor
wo ich dich lassen kann
sind gierig
aufeinander
jeder für sich
ahnen wir uns

***

tagträumende Gemeinsamkeiten
bis aus dem wollen
ein Wille wird
vielleicht auch nur
eine schillernde
Seifenblasenerinnerung
hab mir mitfühlend einen
wunschdenkenden Knoten
ins Haar geknüpft
und lass ihn wolkengleich
aufsteigen zu dir

***


im Kreidekreis der Verwirrung
ließ` ich dich frei
zerr` nicht am Ende
will nur ein Ganzes
mit Haut und Herz
legt sich
eine Schlinge um zwei
atemberaubend
zieht sie sich enger
zauberhaftsgleich
dieser Sturz
ohne Netz

***

wartend auf die
Kirschenzeit
spucken wir
die letzten Kerne weit
vollmundig genießen wir
bis dahin die süßen Früchte
nicht ohne Grund
aber ohne Zweifel
bin ich sicher
in dir




Freitag, 2. Juli 2010 - 19:47 Uhr
Einkehr

Sie hatte es einfach satt an diesem Abend, alles irgendwie. Wenigstens von allem etwas. Der Tag in der Firma hatte ihr den letzten Nerv geraubt und nach Feierabend war ihr nach Entspannung. Sie schwankte zwischen Schwimmbad und Kino und entschied sich dann für das Kino, weil ihr der Lärm im Schwimmbad immer die halbe Nacht in den Ohren hing.
Aber der Film konnte sie nicht wirklich fesseln, weil sie nicht am Thema bleiben konnte. Ihre Gedanken verfransten sich immer wieder in der eigenen Unzufriedenheit. Nach dem Ende des Films verließ sie fluchtartig das Kino um dann unentschlossen vor dem hell erleuchteten Eingang zu stehen, durch den schon die Besucher der nächsten Vorführung wieder hinein drängten.
Ein hauchfeiner Nieselregen legte sich auf ihre Schultern. Sie wollte jetzt nicht in die dunkle Wohnung zurückkehren, nicht sofort. Dort klang momentan jedes Geräusch hohl und aus jeder Ecke sprang sie etwas an, an dem sie sich festbeißen konnte.

Gegenüber des Kinos führt eine kleine Gasse zu weiteren engen Straßen der Altstadt. Die niedrigen Häuser dort stehen Mauer an Mauer und sind alle in den letzten Jahren restauriert worden. Die Fenster lassen Rückschlüsse auf die Bewohner zu.
Verspieltes wechselt sich mit nüchternem ab. Ihre Assoziationen dazu begleiten ihre Schritte und sie beurteilt die Menschen hinter den Mauern.
Architekten, Lehrer, Ärzte, meist ohne kindlichen Anhang, denn für Kinder ist hier nur wenig Platz.
Nur am Ende der Gasse gibt es ein Eckhaus das noch nicht restauriert ist. Dichte Falten in den verblichenen Stores, die die Einsicht verbergen. Osterkakteen, deren vertrocknete Blüten die Töpfe säumen, dazwischen Alpenveilchen mit gelb geränderten Blättern in denen sich die letzten Fliegen des Sommers ihrer tödlichen Ruhe hingeben, nachdem sie wahrscheinlich tagelang verzweifelt summend gegen die Fenster geflogen sind.
Sie bleibt unvermittelt vor dem Fenster stehen, wie vor einem Schaufenster. Das Ambiente lässt auf einen älteren Menschen schließen, entweder eine allein lebende alte Frau, die es nicht mehr schafft ihren Alltag in gewohnter Gründlichkeit zu erledigen, oder einen allein lebenden Mann, der die Gewohnheiten seiner Frau weiterhin bestehen lässt, auch wenn sie längst nicht mehr lebt.
So oder so eine unangenehme Vorstellung vom Alter und vom älter werden.

Sie reißt sich los von der Trostlosigkeit, schiebt die Hände ein wenig tiefer in die Taschen und geht weiter, als wäre sie gerade jetzt zu irgend etwas entschlossen.
Wahllos biegt sie um Straßenecken zwischen hohen alten Gebäuden. Vorbei an Frisörläden, Lottokiosken und türkischen Gemüsehändlern. Schmutzig grauer Stuck und farbloser Putz wechseln sich ab.
Die meisten Fenster sind bläulich erleuchtet von den Fernsehbildschirmen über die das Leben flimmert. Hinter einigen erheben sich erregte Stimmen in Zorn und Frust, die bis auf die Straße dringen.
Sie hatte gehofft bei dem Weg durch die Stadt etwas zu finden, das gegen die eigene Unzufriedenheit Wirkung zeigen würde.

Vor ihr vier gelbe Rechtecke auf dem Boden. Der Lichtschein durch das gelb eingetönte Glas zu der Gaststätte dahinter. Gelbes Glas mit runden Facetten wie Flaschenböden, für Blicke von außen undurchdringlich.
Über der Tür eine altersschwache Leuchtreklame, deren verbliebene Leuchtstoffröhre schon gefährlich flackert. Aber das scheint die Art Kneipe zu sein die keinen Namen braucht, weil hier sowieso immer die gleichen Gäste einkehren, generationsweise von den eigenen Nachkommen abgelöst.
Neben der Tür ein kleiner Schaukasten mit der üblichen Liste deutscher Hausmannskost und einer doppelt so langen Getränkeliste.

Später kann sie nicht mehr sagen warum sie die verschrammte Messingleiste nach innen gedrückt hat und hinein gegangen ist. Vielleicht hat sie etwas vertrautes gesucht, oder etwas das sich so anfühlen würde.
Einen Meter hinter der Tür noch ein schwerer Velourvorhang an einer Messingschiene, das war früher mal stilvoll, heute riecht der Stoff nach kaltem Rauch und all den sinnlosen Worten die sich in ihm verfangen.
Ein Ecktresen, ein paar unregelmäßig aufgestellte Tische, alles in dunklem Holz. Bügelfreie Tischdecken mit Plastikblumengestecken. Die Menschen wie zufällig an ihren Platz gestreut, ohne erkenntlichen Zusammenhang. Nur zwei ältere Männer diskutieren über Fußball. Die anderen schweigen, starren sie an als sie eintritt und starren wieder dorthin zurück wo sie vorher hingestarrt haben. Blicklose Leere, nur der Wirt hinter dem Tresen versucht freundlich zu sein als sie vor ihn tritt. Sie gibt sich Mühe sicherer zu erscheinen als sie eigentlich ist und weil ihr so schnell nichts anderes einfällt bestellt sie ein Bier. „Gezapft oder Flasche?“, fragt der Wirt, dessen behaarter Bauch sich zwischen Hemd und Hose zeigt als er ein Glas in das Regal über den Tresen stellt. „Flasche“, entscheidet sie. „Glas“ fragt er. Sie nickt.
Er stellt die Flasche vor sie hin, öffnet mit der gleichen Hand den Verschluss und kippt ihr etwas von dem Bier in das Glas, bis der Schaum den Rand erreicht und stellt dann beides vor ihr ab. Es lohnt nicht einen Strich auf einem Bierdeckel zu machen. Solche wie sie bleiben hier nicht lange. Mehr als ein Bier trinkt die eh nicht.
„Zwofuffzich“, damit ist von seiner Seite die Konversation vorerst beendet.
Sie legt ihm das Geld abgezählt auf den Tresen.

Ein Mann, jünger als die anderen Gäste, kommt aus einer Tür im hinteren Bereich. Wahrscheinlich von der Toilette, geht direkt zum Tresen, sieht aus den Augenwinkeln zu ihr rüber und lehnt sich dem Wirt über den Tresen entgegen. Sie versteht nichts von dem was gesagt wird. Jetzt sieht er sie offen an, der Wirt wendet den Kopf und nickt kurz in ihre Richtung als er spricht, als würde er auf sie deuten. Der andere nickt, bestellt etwas beim Wirt. Er bekommt ein gezapftes Bier und der Wirt stellt ein Cognacglas vor sie hin. „Von dem Herrn da drüben“, nickt er in Richtung des Mannes. Ein recht ungewohnter Satz für seinen Mund, der Klang wirkt hier fremd.
Sie nimmt das Glas, prostet in Richtung des Spenders und kippt es in einem Zug hinunter. Er zieht eine Augenbraue hoch und kommt zu ihr herüber. „So durstig?“ Sie schämt sich, weiß keine Antwort und weiß auch nicht warum sie das getan hat. Per Fingerzeig bestellt er noch einen für sie. Der Wirt schenkt aus der Flasche in das benutzte Glas nach. Der Mann neben ihr nickt und der Wirt hebt die Flasche noch einmal etwas höher. Das Glas ist jetzt halb voll. Er hebt ihr sein Bierglas entgegen.
„Na denn, Prost schöne Frau.“ Sie nickt, stößt gegen sein Glas und kippt wieder alles in einem Zug runter. Es brennt in der Kehle, sie mag gar keinen Cognac, schüttelt sich kurz und spült den Geschmack mit einem großen Schluck Bier hinunter.
Sie hat nicht das Bedürfnis mit dem Mann zu reden und ihm fällt auch nichts ein, als ihr noch ein Glas zu bestellen. Der Wirt schenkt noch einmal großzügig nach. Sie spürt die erste Wirkung des Alkohols. Ein leises Rauschen in ihrem Kopf, dass sie eigentlich warnen sollte, weil es nur der Anfang von dem ist, was noch kommen wird. Die Warnung ignorierend stürzt sie auch das nächste Glas noch in einem Zug hinunter. Dafür ignoriert ihre Zunge bereits den seifigen Geschmack und wird sich in wenigen Minuten lockern. Der Mann neben ihr wartet eine Weile stumm ab und sieht ihr dabei die ganze Zeit unverhohlen ins Gesicht, als würde er darin etwas entdecken können. Sie gibt sich Mühe alles hinter einem Gesicht ohne Ausdruck zu verbergen, aber wahrscheinlich kann er ihre Einsamkeit riechen. Warum sonst wäre sie wohl hier eingekehrt.

„Immernoch durstig“, fragt er nach einer Weile in ihr hohles Gesicht, vielleicht auch nur um irgendetwas zu sagen.
Ein Kichern steigt albern in ihr hoch. „Sie wollen mich wohl betrunken machen?“
„Ja, und dann verführe ich sie, sie werden mir hörig und wir beide bleiben für den Rest unserer Tage zusammen.“ „Ja ja, das könnte ihnen so passen“, grinst sie leicht nuschelnd vor sich her. „Wenn´s ihnen gefallen würde, warum denn nicht?“
„Dann haben sie bestimmt ihr weißen Pferd draußen vor der Tür?“
„Genau, ganz edler Lipizzaner. Na, noch einen?“
Sie nickt, jetzt ist es sowieso schon fast egal. Ihr Urteilsvermögen hat sich gerade eben verabschiedet. Vielleicht, wenn sie jetzt noch ein paar Gläser trinkt, wer weiß, man kann ja nie wissen, vielleicht ist er ja wirklich der Mann mit dem Pferd.
Er bestellt, sie trinkt.
„Und sie haben wirklich ein Pferd?“ „Nein, das nicht, aber ich kann reiten“, dabei zieht er die Augenbrauen vielsagend nach oben um die Zweideutigkeit der Aussage noch zu unterstreichen. Sie prustet, als wäre das jetzt der Witz des Jahres. „Und ich kann wiehern.“ Ihr Kopf lehnt sich an seine Schulter und bleibt dort liegen. Zuviel Vertraulichkeit für diesen kurzen Moment, aber er greift zu, legt den Arm um ihre Schultern und drückt sie an sich und seine Nase in ihr Haar. „Du duftest so gut.“
Ja, nach Büro und Kino, denkt sie, schweigt aber. Seine Hand spielt mit ihren Haaren. „Schönes Haar hast du.“ Seine Hand greift ihr Kinn damit sie ihn ansehen muss. „Und so schöne Augen.“ Sie versucht seinen Blick zu halten, aber er verschwimmt ihr. Sie bläst den Atem in einem Stoß über die Unterlippe aus, lehnt ihre Stirn an seine Schulter. Seine Hand streichelt ihren Nacken, sie möchte jetzt schnurren.
Er hebt die Hand, macht dem Wirt ein Zeichen mit Zeige- und Mittelfinger.
Der Wirt stellt ein neues Glas zu ihrem und kippt beide halbvoll. Die Männer sehen sich an, stilles Einverständnis im Blick.
„Zapfenstreich für heute“, verkündet der Wirt laut in die Runde. Murrend werden Stühle geschoben und Bierdeckel auf den Tresen geworfen.
Einer begehrt auf. „Und die Frau? Und Kalle?“
„Für die Dame rufen wir gleich ein Taxi und Kalle hilft mir beim Stühle hochstellen!“
Die anderen wollen auch mal, die Stühle hochstellen, wenn sich eine hierher verirrt und beim Kalle hängenbleibt. Aber hier sind Aufgaben und Gelegenheiten seit Jahren in fester Hand, da kann man nichts dran rütteln.
Als der letzte sich in seine Jacke geschoben hat schließt der Wirt hinter ihm die Tür.
Kalle hält ihr das Glas vor die Nase. „Hier, trink aus!“ Sie muss das Glas mit beiden Händen halten. Er stößt mit ihr an. Noch einmal stürzt sie alles auf einmal hinunter. Er rettet das Glas vor dem Absturz, als sie es fast neben den Tresen stellt.
Hinter ihr steht der Wirt, ganz nah. Sie spürt seine Gegenwart und lehnt sich rückwärts gegen seinen Wirtsbauch. Seine Hände umgreifen sie, dort wo schon lange keiner mehr hingegriffen hat. Der andere spreizt ihre Beine und reibt dazwischen bis sie sich ihm entgegen schiebt.
„Billardzimmer“, fragt Kalle. Der Wirt nickt, dann führen die beiden Männer sie in eines der hinteren Zimmer.






Freitag, 25. Juni 2010 - 23:49 Uhr
flüchtig


leise klirrend zieht sich
ein Ring aus dem anderen
treibt hinaus in seichten Wellen
geht Tropfen um Tropfen
zum steinerweichen
immer näher
bis sich nichts mehr bricht
bis alles glatt und klar
und eins ist miteinander

weiche Wellen brechen nicht
spülen seichte alles fort
was unklar ist und rau
ziehen in den Bann in ihrer Mitte
wo sich alles trifft und eint
dort zieht es uns hinab
in andre Tiefen
die wir nicht fassen können
bis uns kein Atem bleibt

wir stoßen auf den Grund
von allem
in uns selbst
im miteinander
und tragen uns
auf Wellen fort
vom sein





Wartezeit - Handlesen - nachts

Dienstag, 22. Juni 2010 - 16:26 Uhr
Wartezeit

Ich stehe unter dem blauen Schild mit einer weißen 5 darauf, so kann ich wenigstens sicher sein das ich hier richtig bin. Ich habe die verschiedenen Aushänge der Fahrpläne mehrmals miteinander abgeglichen um auch ganz sicher zu sein. Da ich öffentliche Verkehrsmittel nur selten nutze verunsichert mich der Umgang damit. Und ich würde nicht zum ersten Mal falsch einsteigen.
Aber Steig 5 ist richtig.
Im Grunde bewundere ich die lärmende Schar von Kindern und fast Erwachsenen, die sich hier mit einer Selbstverständlichkeit bewegen, ohne sich konzentrieren zu müssen. Ihre Alltäglichkeit kommt ihnen hier zu gute. Sie wissen genau wann und wo sie sich einzufinden haben.
Mir fällt es schwer, mich dabei auf mein Urteilsvermögen zu verlassen. Ich traue Zahlen und Ziffern nicht.

Es ist heiß hier in der prallen Sonne, ich fühle mich unwohl, bin versucht ein paar tobenden Kindern etwas entgegen zu knurren, damit sie mir nicht zu nah kommen. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss warten, auf den richtigen Moment, den richtigen Einstieg in die richtige Richtung.
In meinem Rucksack liegt ein Buch. Wenn ich gelassener wäre, dann könnte ich jetzt neben der jungen Mutter und ihrem Kleinkind einen Platz finden, mein Buch aufschlagen und dem hier entrücken. Aber dann wäre ich unkonzentriert, also traue ich dem nicht und lasse das Buch wo es ist.

Auf dem Hauptsteig ist Schatten, aber ich werde nicht dort hinüber gehen. Ich werde hier unter der weißen 5 auf blauem Grund stehen bleiben und noch 20 Minuten in der Hitze warten müssen.
Vereinzelt stehen Erwachsene wie Säulen zwischen den beweglichen Kindern.
Ältere Frauen mit großen Kunstledertaschen, deren Griffe sie mit festem Griff umschließen. Zwei junge Frauen stehen in der Nähe des Papierkorbs und rauchen in der Nichtraucherzone. Das ganze Gebiet hier ist eine öffentliche Nichtraucherzone.
Ich frage mich nach dem Sinn von Nichtraucherzonen unter freiem Himmel.
Aber manchmal wünsche ich mir auch so eine Zone. Eine Zone in der mich niemand stören darf und kann. So etwas wie eine ganz persönliche Bannmeile, in die niemand eindringen darf, der mir nicht wohl gesonnen ist, oder der mich im negativen Sinne stört.
Manchmal schaffe ich mir so eine Bannmeile mit meinen Blicken, mit meiner Haltung. Von außen betrachtet wirkt es wie eine harte Schale, aber ich lasse ungern Fremde in meinen ganz persönlichen inneren Kreis und gewähre nur wenigen einen Einblick in die mich bewegenden Realitäten. Auch wenn ich nicht weiß, wie dieser Funke manchmal überspringt, und es doch gelegentlich mal jemand schafft sich dazu eingeladen zu fühlen. Die allermeisten müssen hinter der Absperrung bleiben.

Mit meinen Gedanken schweifen auch meine Blicke umher, treffen dabei unvermittelt auf ein Augenpaar. Ein Blick, dem ich für gewöhnlich in so einer Umgebung ausweichen würde, aber ich halte Stand, bleibe haften.
Ich könnte nicht sagen was es ist, was meinen Atem jetzt tiefer und ruhiger werden lässt. Ich atme, sehe weiter hin und bemerke, dass wir im gleichen Takt atmen.
Das geschieht nicht abrupt, aber mit jedem Atemzug nähern wir uns an.
Ich kann mich nicht lösen, von diesem Atem, diesem Blick.
Und ich will jetzt nichts weiter denken, lasse alle Konzentration auf das Hier los.
Ein unsichtbarer, elektrisch geladener Faden spannt sich vibrierend zwischen uns.
Ich blende alles aus, die Hitze, den Lärm, das Licht, die Zeit, alles was jetzt unwichtig ist. Ich will nur diesen Moment halten, in mir in die Erinnerungen heften.
Wir könnten uns aufeinander zu bewegen, aber wenn wir dann feststellen würden, dass wir nicht das gleiche Ziel haben, dann würden wir diesen Moment der Eile opfern müssen und es würde vielleicht nichts bleiben, als ein paar flüchtig ausgetauschte Zahlen, denen ich nicht traue, weil sie mehr und mehr an Bedeutung verlieren.
Ich überlasse der Zeit die Entscheidung über den weiteren Verlauf, wie früher beim Gänseblümchen-Schicksal-Abzählen. Jeder hat sein eigenes Ziel im Kopf und wenn wir nicht die gleiche Richtung hätten, dann würden wir hier nicht aufeinander getroffen sein.
In mir ist eine abwartende Ruhe angekommen, die darüber entscheidet dass es richtig sein wird, so wie es geschehen wird.
Ein ankommendes Geräusch lässt allgemeine Hektik aufkommen, in der wir unsere Blicke voneinander lösen.
Die Frage nach der Richtung bleibt und wird sich früher oder später klären, wenn die Zeit für eine Antwort gekommen ist.




Samstag, 19. Juni 2010 - 14:43 Uhr
Handlesen


Ich sehe gerne auf deine Hände, die kantigen Finger mit den schmalen Nägeln, wie sie manchmal ungeduldig mit einem Fussel kämpfen, als würden sie Krieg mit ihm führen.Und wie sie manchmal nur einfach ruhen, wenn eine Hand selbstvergessen den Becher mit einem leise, schabenden Geräusch auf dem Tisch dreht und die andere Hand ein Buch von oben hält, den Zeigefinger zwischen den Seiten.
In solchen Momenten mag ich mich kaum rühren um das Bild nicht zu stören. Ich will nicht dass du innehälst und aufsiehst, dein Blick ruhelos und ungeduldig wird.
Ich mag es, wenn ich dich in solchen Momenten einfach nur betrachten kann.

Ich sehe an deiner Stirn wie dich bewegt was du liest, an dem Spiel der Augenbrauen.
Wie die Augen noch einmal zurück wandern, ein paar Zeilen nach oben, weil irgend etwas den Fluss unterbrochen hat. Wie du manchmal mittendrin das Buch zuklappst, den Finger zwischen den Seiten und mit einem Finger der anderen Hand über eine Augenbraue streichst, dein Blick ins Leere geht, dorthin wo man sich zum Denken zurückzieht, bis du die Seiten wieder aufschlägst und weiter in der papiernen Welt versinkst.
Wenn du so bist, dann weiß ich, dass du nichts beweisen musst, nicht mir, nicht uns.
Dann sehe ich dich wie du bist.
Als würde ich etwas kostbares in Händen halten, drehe und wende ich dich in meinen Gedanken. Ich bin nicht auf der Suche nach etwas kantigem an dem ich hängen bleibe, weil du dich für mich glatt und rund anfühlst.
Ich lausche dem Geräusch mit dem du die Seiten umschlägst ohne Ungeduld und wünschte mir, du würdest gerade heute immer weiter lesen.
Aber ich bedaure uns auch um die Zukunft, in der es keine Bücher mehr geben wird, in der man ohne die altbekannten Geräusche und den Geruch von frischem oder gelesenem Papier auskommen muss.
Wenn sich nicht mehr Rücken an Rücken in den Regalen zeigt, auf welchen Pfaden man im Leben gewandelt ist.
Wenn man anstatt in hölzernen Regalen nur noch in Dateien und Ordnern sortiert, welche Papierreise spannend war, mit welchen Helden man im Kampf gestanden hat und mit wem man bis zur letzten Seite gebangt hat.

Jetzt legst du das Buch ohne Hast beiseite, nicht ohne an Stelle deines Fingers ein Stück Papier hinein zu legen.
Dein Blick zeigt mir, dass sich etwas in dir angespannt hat, etwas das heraus muss, jetzt gleich. Es springt mir entgegen, lässt mich die Handfläche zwischen den Knien aneinander reiben. Mit zwei Schritten bist du bei mir und gleich wird meine Ahnung zur Gewissheit werden. Ich mag deine Hände, auch wenn sie andere Dinge tun.




Dienstag, 8. Juni 2010 - 11:25 Uhr
nachts


Nachts kriecht es in die Seelenlöcher
was man am Tage so bekämpft
es brennt wie junge Nesselblätter
es reibt sich in und unter die Haut
wie ein giftiger Stachel

ein Fluss aus gelbem Eiter
aus dem juckenden Ekzem
das einen nicht zur Ruhe kommen lässt
der alles vergiftet
was war und was ist
und immer wieder Sand
in diese offene Wunde
und im Getriebe
lethargische Schritte ins Vorwärts

mir schmerzt der Nacken
von den Schlägen
erinnerungswund
pflücke ich mir die Reste
bevor sie ganz davon verdorben sind

dies Schlachtfeld lass ich dir
dass du dich in den Fetzen suhlen kannst
das laute Leid ist deines
kampflos geschlagen
trete ich leise zurück
aus den blutigen Scherben

aus einem Albtraum erwacht
mit einem blinden Schrei
aber ich war nicht tot,
wer starb, dass warst du