Donnerstag, 11. November 2010

Heim - weg


Der Hof steht auf einer leichten Anhöhe und ist in dem flachen Land schon weithin sichtbar. Es wird noch ein paar Minuten dauern bis sie dort ist, Zeit zum atmen, sich einfinden in die Stimmung.
Herbstliche Schauer und Sonnenschein haben sich zu einem Regenbogen vereinigt, der aus ihrer Sicht seinen Anfang direkt über dem Hof zeigt. Wie ein Energiestrom ragt er als ausgefranstes Ende in den Himmel. Es ist nur nicht zu erkennen, ob die Energie hinein oder heraus fließt. Ihr Optimismus ist situationsbedingt begrenzt, sie sieht den Regenbogen eher als einen großen Saugrüssel, der die Energien nicht nur herausfließen lässt, sondern sie unter großem Druck abzieht. Täglich ist weniger davon vorhanden, mit jedem Gespräch, jedem Wort, jedem verächtlichen Blick wird es kälter.
Eingelullt von jahrelanger Vertrautheit waren ihnen die schleichenden Veränderungen kaum aufgefallen oder sie hatten sie einfach hingenommen. Reste von allem was nötig ist um eine Existenz zu berechtigen waren ja noch vorhanden. Aber es schwächelte und das nicht erst seit kurzem. Beiläufige Berührungen, gefühlstote Küsse und Pflichterfüllung statt Begehren.
Um die Vertrautheit hatten sie einst gekämpft, sich zueinander durchgerungen und die gratigsten Kanten abgeschliffen damit sie sich und einander aushalten konnten. Nicht so sehr, dass sie nicht hin und wieder aneinander hängenblieben und sich reiben konnten. Aber irgendwann waren sie wie Kiesel im Meer, die nach jahrelangen Wellen rundgeschliffen sind und träge im Sand liegen bleiben, nachdem die letzte Welle sie mit einer rollenden Bewegung an Land gespült hat.
Sie rutschten einfach aneinander ab, wie eine Hand die auf eine Schulter gelegt wird und im nächsten Schritt unbemerkt abgleitet. Eine unbewusste Geste, die bei genauerer Betrachtung die zweisame Einsamkeit in den Vordergrund zerren kann.
Die Gleichgültigkeit schwappte in Wellen über sie hinweg und jetzt drohten sie darin zu ertrinken. Gerade jetzt, wo sie versuchten sich über Wasser zu halten.

Die letzten Meter Landstraße, der Blinker gibt bereits den Takt an, ein halbherziger Versuch mit dem rhythmischen Klacken das Geräusch des Regens auf dem Blech zu übertönen. Der Regenbogen hat sich im grau des Himmels aufgelöst. Sandiger Kies täuscht ein Gefühl von vertrauter Umgebung vor. Der immer gleiche Weg hat eine Fahrspur in den Boden gedrückt, aus der es kaum ein Entkommen gibt, wie eine Schiene die den direkten Weg vorgibt. Kein Ausweichen möglich.
Der Hofhund schleppt sich keuchend ein paar Meter vorwärts und verharrt mit gesenktem Kopf und hängender Rute ausdruckslos im Regen. Selbst er scheint sich den Gegebenheiten angepasst zu haben. Alt und krank harrt er auf eine Lösung, aber niemand scheint sich zuständig zu fühlen. Vielleicht weil er ein Erbstück des verstorbenen Vorbesitzers war und niemand gelernt hat ihn zu lieben. Es fehlt das Stückchen erlebter jugendlicher Übermut, der ihn einst liebenswürdig erscheinen ließ. Irgendwie war er immer ein alter Hund, distanziert und leicht griesgrämig, nur auf seine Aufgabe fixiert einfach präsent zu sein.
Sie nutzt den Schauer um noch ein wenig Ordnung in die angesammelten Gedanken zu bringen. Ein Stapel für die Erkenntnisse des Tages, die sich vielleicht schon wieder in Luft aufgelöst haben, sobald ihr Gegenpart ausgesprochen wird.
Ein Stapel mit resultierenden Fragen und ein kleiner aufgestauter Rest an unauflösbaren Vorwürfen.
Der Regen gibt ein wenig nach und sie hastet quer über den Hof ins Haus, als hätte sie es eilig.
Der alte Kachelofen der halb in die Diele ragt kann mit seiner bulligen Wärme die Kälte im Haus nicht vertreiben. Seine Hitze erreicht das innerliche Frösteln nicht. Das morgendliche Anheizen gehört zu den Ritualen, mit denen sie sich hinweggetäuscht haben, ebenso wie der erste schweigsame Kaffee gemeinsam am Küchentisch.

Wann war dieses Schweigen eingezogen und wann war es so laut geworden, dass es unüberhörbar wurde?
Eingezogen war es sicherlich schleichend, unbemerkt. Bis es vor einigen Wochen mit einem lauten Knall mitten in sie hinein gebrochen war.
Plötzlich hing dieses Wort im Raum -Betrug-, zuerst nur als Verdacht, dann als Bestätigung. Eine Beichte die das schwelende Gewissen beruhigen sollte, aber eine Feuersbrunst an Gefühlen heraufbeschwor. Eigentlich unnötig, weil schon Jahre dazwischen lagen.
Betrug – nur das nichts trägt hinter diesem Wort. Es ist eher ein Fall ins Bodenlose, schleudert jeden Glauben, jedes Versprechen in den Dreck.
Die Unverwundbarkeit bekommt einen Riss, wie eine klaffende Wunde, aus der zäher, gelber Eiter sickert und die Lücke zwischen ihnen füllt.

Der Anlass eine beiläufig erwähnte Hochzeitsanzeige in der Zeitung.
Seine Antwort, ein lapidar in den Raum geworfenes „Wusstest du eigentlich dass ich mal etwas mit ihr hatte?“
Eine lächelnde Verneinung, im Glauben an die Zeit vor ihrer Zeit und dann die Erkenntnis. „Ich dachte du hättest etwas bemerkt, damals.“
Damals war fünf Jahre her, da steckten sie mitten in der Renovierung des Hofes und ihr war kaum klar, wie er daneben noch die Zeit gefunden hatte. Gefühlt hatten sie zu der Zeit jede freie Minute miteinander verbracht. Es gab die üblichen Baustellenreibereien die es zwischen Paaren gibt. Ob die Toilette besser schräg oder rechtwinklig steht. Ob die Idee mit der offenen Küche tatsächlich wegen der störenden tragenden Wand der Stabilität des Hauses geopfert werden musste und welche Farben schließlich für die Wände gewählt werden.
Manchmal gerieten sie mit ihren Kräften und Argumenten an Grenzen, aber größere Schäden blieben aus, zumindest offensichtlich.
Bis zu seinem späten Geständnis.

Als seine Worte in ihr Bewusstsein drangen spürte sie einen Schnitt der mitten in das Fleisch ihrer Beziehung geriet. Nur nicht mit dem leisen Knirschen, mit dem man mit einem Skalpell in lebendiges Fleisch schneidet, sondern wie mit einem stumpfen Messer in eine tote Schwarte, die das darunter liegende tote Fleisch bedeckt.
Jetzt sezierten sie an den Resten ihrer Liebe, schwer bewaffnet mit Worten auf der Suche nach Gründen und Ausflüchten.
Drei Monate vor fünf Jahren, in denen sie an Nähe geglaubt hatte und er unbemerkt weit von ihr abgerückt war.
Sie, verletzt von seinem Geständnis und ihrer eigenen Blindheit, und er durch ihr Eingeständnis ihn nicht einmal in Verdacht gehabt zu haben.
Manche Sätze rissen tiefe Narben und verschütteten die Irrtümer guter Erinnerungen.
Oft schleppten sie sich am späten Abend wie zwei Schwerverletzte unter die Decken. So viel Abstand wie nur möglich zwischen sich lassend, lag jeder an seinem Rand und nahm eher einen Absturz als eine kleine Geste der Zuwendung in Kauf.
Die Schuldfrage ließ sich nicht eindeutig klären, weil damals keine ausreichenden Gründe vorgelegen hatten. Das war es auch, was es für sie umso unerträglicher machte. Wenn es einen Grund gegeben hätte, dann hätte man ihn bewegen können und das Verzeihen irgendwo an ihm aufhängen können. Aber so blieb alles in der Luft die sich kaum mehr atmen ließ, wenn beide im selben Raum waren, weil zu viele giftige Gedankendämpfe darin waberten. In jedem Blick lag eine Anschuldigung auf der Lauer. Was würde wohl als nächstes hervorkriechen und seine hässliche Fratze zeigen?
Das Schweigen zwischen ihnen war gebrochen und forderte seinen Preis. Sie wechselten keine Worte, sondern schleuderten sie sich zu, manchmal hasserfüllt und verletzt. Alles kam mit in die Waagschale, die ganze Gleichmütigkeit aus der sie ihre Sicherheit gezogen hatten. Eine Sicherheit die ihnen jetzt schon fast unanständig vorkam, weil sie, außer den täglichen Ritualen, so wenig dafür geleistet hatten.
Die Alternativen würden sie demnächst voreinander ausbreiten.
Mit schlecht heilenden Verletzungen getrennte Wege gehen oder in dem ganzen chaotischen Wirrwarr aus widersprüchlichen Gefühlen auf den Parallelen wieder zueinander finden und sich vorsichtig gegenseitig die Wunden lecken um es besser zu machen. Der Wille zur Besserung wäre eine der Grundvoraussetzungen um wieder zum Leben zu erwecken, was jetzt mehr tot als lebendig in der Ecke lag und ums Überleben kämpfte.
Der Ausgang des ganzen war die unbekannte Größe mit der sie jonglierten.
Vielleicht war es am einfachsten mit dem schlimmsten zu rechnen um es sich immer wieder vor Augen zu führen um einen Schritt nach dem anderen davor zurück zu weichen.
Vielleicht war aber auch nur ein letzter klarer Schnitt die einzig mögliche Lösung.

An der Garderobe hängt ihre tropfende Jacke, darunter zwei kleine Wasserlachen auf dem Boden.
Sie sitzen sich in der Küche am Tisch gegenüber, halten sich fest am heißen Kaffee.
Sein Blick richtet sich auf sie und ein Arm schiebt sich langsam in ihre Richtung. Sie sieht es kommen, ohne es verhindern zu können. Die Hand legt sich in einer beschwichtigenden Geste auf ihren Unterarm. Darunter wird ihr kalt, sie hört auf zu atmen, sieht nur auf die Hand und weiß, dass sie das und ihn nicht mehr aushalten kann.

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